Hannelore Fobo

Evgenij Kozlov: B(L)ACK ART 1985 - 1987 Seite 5




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Evgenij Kozlov: Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren!


Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren!

 

Beim Gemälde Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren! (1985/1986) handelt sich um eine Große Erzählung, deren einzelne Erzählstränge auf unvorhersehbare Weise beginnen oder enden, in ein anderes Motiv hineinführen oder mit ihm konkurrieren.

Evgenij Kozlov: Когда вы начинаете чувствовать мускулы! Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren! Mischtechnik, Leinwand, 118 x 185,8 cm, 1986.

Evgenij Kozlov
Когда вы начинаете чувствовать мускулы! Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren!

Mischtechnik, Leinwand, 118 x 185,8 cm, 1985/1986.

Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer Überfülle des Geschehens, die aber doch eine formale Ordnung erfährt, denn der Betrachter wird nicht im Unklaren darüber gelassen, wo Haupt- und Nebenfiguren zu suchen sind.

 

Der aggressive und schnelle Duktus der Linienführung, der aus einer übermalten Fotografie und einer Filzstiftzeichnung auf Papier (Шок арт / Shock art) für das Gemälde übernommen wurde, findet seinen Gegenpart in der Dramatik der Bildmotivs. Wir sehen im rechten Teil des Gemäldes eine Explosion, die wir bereits aus dem kleinen Ya-Ya kennen. Hier bleibt es aber nicht bei der Explosion: ein Feuer breitet sich aus und hüllt die Gitterstäbe eines Gefängnisses in Flammen. Einer Frau wurde der untere Teil des Körpers abgerissen, ein Bein liegt auf der Erde, und aus ihrem nackten Körper purzeln die Gedärme. Am rechten Bildrand sehen wir ihr Bikinioberteil liegen. Schreiend versucht sie, sich an eine Figur zu klammern, deren ungläubiger Blick auf die Situation gerichtet ist: während sie die kleine Frau wie einen Fremdkörper vor sich hält, stehen ihr vor Entsetzen die Haare zu Berge.

 

Evgenij Kozlov: Igor Verichev, 1985, Inv. no AR11

Evgenij Kozlov
Igor Verichev,
1985
Inv. no AR11 mehr >>
Zu dieser Szene wurde der Künstler von einer kurz zuvor übermalten Fotografie inspiriert, die wir im Gemälde spiegelverkehrt wiederfinden. mehr >>. Wenn wir uns diese übermalte Fotografie anschauen, so sehen wir auf dem Rand des Kartons, auf den sie aufgeklebt ist, Soldaten in Uniform. Dieses und andere Motive sind mithilfe einer Frottage-Technik aufgebracht. (Diese Technik spielt 1986 eine größere Rolle.) Zu den Motiven gehören verschiedene technische Zeichnungen, die auf den Einsatz von Kriegsgerät anspielen könnten.

Gehen wir aber noch einen Schritt zurück und betrachten die Fotografie, wie sie der Künstler ursprünglich aufgenommen hat, dann sehen wir eine durchaus harmlose Szene: Igor Verichev sitzt an einem gedeckten Tisch und umfasst mit beiden Händen eine große Teetasse, wobei er mit einem Ausdruck maßlosen Erstaunens vorgibt, dass er beim Essen überrascht wurde. Im Verhältnis zu dem, was anschließend daraus wurde, ist diese Situation von bezwingender Unschuld.

 

Der linke Teil des Gemäldes wirkt nicht weniger turbulent als der rechte. Er wird dominiert durch eine im Profil abgebildete junge Frau, der zentralen Figur des Bildes. Diese Seitenansicht ist durchgehend in einem kräftigem Rot gehalten ist, welches sich in der Feuerbrunst im rechten Teil des Bildes wiederholt. Die rechte Hand der Frau liegt auf einem Stock, der ursprünglich ein Bettpfosten war. Zugegeben, um dies zu erkennen, muss man einen Blick auf die Grafik Shock art werfen.

Evgenij Kozlov o.T. (Шок арт / Shock art).  Filzstift, Collage, Computerausdruckpapier,, 30,5 x 42 cm, 1986

Evgenij Kozlov
o.T. (Шок арт / Shock art).
Filzstift, Collage, Computerausdruckpapier,
30,5 x 42 cm, 1985/1986 mehr >>

Man erkennt dann dieses Detail. Auf der Fotografie, die Shock art zugrunde liegt, ist es nicht vorhanden. Der ganz eigenartige Gesichtausdruck des leicht geneigten Kopfes ist direkt von der Grafik bzw. Fotografie übernommen. Man tut sich schwer, diesen Ausdruck zu charakterisieren. Ein leichter Anflug von Gereiztheit ist dabei, aber auch etwas Bestimmtes, Kraftvoll-Vehementes. Die Mimik wird durch eine Art sichtbarer Atem ergänzt, der wie ein Schalltrichter aus dem Mund fällt. Der Blick unter den stark gesenkten Lidern richtet sich nach unten; von dort, vom linken unteren Bildrand, ragen vier Krallen wie die Tentakel eines Oktopus’ ins Bild. Ob die Frau diese bedrohlich wirkenden Krallententakel anschreit oder überhaupt nicht bemerkt, bleibt wegen der fast geschlossenen Lider unklar.

 

Die Tentakel, die auch vier Finger einer Hand sein könnten, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als zwei Paar Beine: man kann Schuhe und Fersen erkennen. Was die beiden dazugehörigen Körper miteinander treiben, liegt außerhalb des Bildes und muss daher durch unsere Fantasie vorgestellt werden. Besonders friedlich scheint es dort jedenfalls nicht zuzugehen; die Beine sind in heftiger Bewegung. Aus dem Hintergrund schaut unheimlich ein Augenpaar auf die junge Frau, die jedoch nichts zu befürchten hat. Vom Kopf bis zu den Füßen umläuft den Körper ein blau gespraytes Band, bemalt mit Fantasiezeichen. Mit den Kringeln an Kopf und Beinen der Frau bildet es die Umrisse eines Seepferdchens und rahmt sie wie eine Schutzhülle ein.

 

Auch hier stößt man, wenn man die Frauengestalt über die Grafik zur ursprünglichen Fotografie zurückverfolgt, auf eine wenig aufregende Situation, wenn vielleicht auch etwas zweideutig: der Künstler steht hinter einem jungen Mädchen, welches ein Kleid trägt, das hinten mit Knöpfen geschlossen wird. Mit ausgestreckten Armen berührt er den zweitobersten Knopf, den er öffnet oder schließt. Auf der Grafik Shock art ist an seine Stelle ein Monster gerückt, das im Augenpaar des Gemäldes wieder auftaucht.

 

Wie kommt es, dass solche an sich belangslosen Szenen derart dramatische Transformationen erfahren?

 

Evgenij Kozlov lässt sich nicht von der Situation (dem Kontext) inspirieren, in der die Figuren auf der Fotografie erscheinen, sondern von ihrem Ausdruck und ihrer Gestik. Mit anderen Worten, der innere Zustand, den sie vermitteln, ist ausschlaggebend, wobei eine ganz entscheidende Bedeutung dem Blick zukommt. Und dieser innere Zustand ist auf dem Gemälde nicht nur erhalten, sondern intensiviert – und dramatisiert.

 

Intensiviert heißt in diesem ganz konkreten Fall, dass die Atmosphäre, die der Künstler in Leningrad Mitte der achtziger Jahre empfindet, in das Gemälde eingeht. Diese Atmosphäre bildet sich in der Endphase des Kalten Krieges, die von massiver ideologischer Propaganda begleitet ist. Der Konflikt, der Kampf, die Auseinandersetzung, die das Neue hervorbringt, wird immer wieder als Groteske dargestellt.

 

Der anarchische Charakter dieser Spannung entlädt sich in diesem Gemälde, und sein Titel Когда вы начинаете чувствовать мускулы! (Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren!) klärt uns über seinen Inhalt auf. Dieser Satz ist in malerischer Schreibschrift auf dem linken unteren Bereich aufgebracht; er hat seinen Ausläufer in der Vertikalen, die als blaues Band um die rote Figur herumläuft. In diesem Band wird der Ausruf mit anderen Zeichen weitergeführt, den Sternchen, den Kommata, den Kringeln, verfremdeten Ausrufezeichen und anderen Interjektionen, die beim Betrachten eine heftige innere Gebärde erzeugen.

 

Wir sehen im Bild, was alles passiert, wenn man beginnt, Muskeln zu spüren, welche Aktionen zu erwarten sind und welche Dynamik sie erzeugen. Wer derjenige ist, der die Muskeln spürt, wer die Explosion verursacht, die Gebäude zum Einsturz bringt und Menschen in Panik versetzt, wird nicht bestimmt. Man kann sich ohne weiteres vorstellen, dass es die Radikalität der Künstler ist, die die alten Strukturen vernichtet.

 

Die Konstellation von Macht bzw. Mächten oder besser Kräften und ihre daraus resultierenden Konflikte werden von Evgenij Kozlov jedoch niemals vordergründig politisch aufgefasst, einmal ganz davon abgesehen, dass in diesem Bild auch keine politischen Symbole zu finden sind. Es ist besser, vom Prinzip der Kraft zu sprechen, sofern man ein solches Prinzip als real gegeben sieht. Diese Kräfte sind, auf die menschliche Ebene übertragen, wahrnehmbar in der inneren Stärke, die ein Mensch besitzt. Diese innere Stärke stellt ihn in ein individuell bestimmtes Verhältnis zu anderen Menschen und zur Außenwelt. Solche Beziehungen umfassen eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, von destruktiv bis harmonisierend, aufbauend. Auf diesem Bild sind drei Möglichkeiten dargestellt, nämlich mit jeder Figurengruppe eine andere: panischer Schrecken und Hilflosigkeit angesichts der Eruption von Brutalität; hitzige Leidenschaft, Bedrohung und Schutz davor; ausgeglichene Harmonie und Kontemplation. Die dritte Figurengruppe ist kopfstehend in den unteren rechten Rand des Bildes eingebettet und gehört zu einer weiteren Bildebene.

 

Dass das Gemälde trotz seiner Komplexität als einheitliche Komposition empfunden werden kann, und dass es dem Betrachter gelingt, die widersprüchlichen Eindrücke zu ordnen, liegt daran, dass der Künstler hinter der „Ereignisebene“ diese weitere kontemplative Ebene gestaltet hat. Sie ist zwar nur in zwei schmalen Streifen sichtbar, doch sind diese ausreichend groß, um durch ihre zarte, pastellfarbige Harmonie das darüberliegende Chaos ins Schweben zu bringen. Am oberen Bildrand sieht man die Silhouette einer Großstadt vor wolkenlosem, grüngepunktetem Himmel, am unteren die Köpfe eines Paares, um hundertachtzig Grad gedreht, mit dem offenen Blick der Frau. Man spürt die Ruhe einer Feiertagsstimmung, diese Unverletzlichkeit des siebten Tages, in seiner Klarheit und Beständigkeit das Gegengewicht zum aggressiven Stakkato der Oberwelt.

 

Die Verbindung von Polen jeglicher Art symbolisiert Evgenij Kozlov durch die Zeichen für plus und minus. Zweifach gepaart sind in den linken oberen Bildrand gesetzt, mit kräftigen, breiten Strichen, - + - + .  Das Plus hat auch eine zweite Funktion als Kreuz. Man kann sich die obere Ebene des Gemäldes, die „Ereignisebene“, als Kreuz vorstellen, wenn man über die Begrenzung durch den Bildrand hinausgeht. Horizontale und Vertikale des Kreuzes sind durch diese obere Ebene bereits angelegt, man muss sie lediglich verlängern.

 

Hannelore Fobo, 2012

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Last updated 26 October 2021