Еvgenij Kozlov über die achtziger Jahre und die «Neuen Künstler» Seite 1


Die Fragen stellte Elena Fedotova, Redakteurin des Kunstmagazins «Artchronika» (Moskau), anlässlich der Ausstellung im Russischen Museum, St. Petersburg:
«Brushstroke. New Artists and Necrorealists 1982 - 1991», Februar - Mai 2010


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Wie entstand die Gruppe „Die Neuen Künstler“ im Jahr 1982? Gab es die Bezeichnung von Anfang an oder erst später?


Еvgenij Kozlov, „Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren", 118,5 x 155 см, 1986 Sammlung Staatliches Russissches Museum Wenn wir uns um dreißig Jahre zurückversetzen und uns anschauen, welche Tendenzen es in den 80er Jahren in der russischen Kunst gab - die akademische Kunst, die Volkskunst, die surrealistische Kunst oder die Konzept-Kunst, die aber eher eine Moskauer Erscheinung ist -, so können wir sagen, dass mit den „Neuen Künstlern“ sich solche Künstler zusammenfanden, deren Ausdrucksweise sich radikal von den anderen Strömungen unterschied. Es gab eine Eruption, und plötzlich waren diese Künstler mit ihrem Anspruch und ihren Vorstellungen einer neuen Sicht der Dinge da, die sie nicht nur in der Malerei, sondern auf allen künstlerischen Gebieten zu verwirklichen suchten, in der Poesie, in Grafiken, Graffiti, Collagen, Fotografien, in der Mode, in der Musik, in ihrem Denken.

Vor den 80er Jahren gab es die Kunst der Dissidenten, die auch ihre Berechtigung hat, wenn man sich einen geschichtlichen Überblick nach Zeitepochen verschaffen will, die aber für die Kunst keine neuen Impulse bringt. Die politische Opposition ist hat eine Bedeutung für die Freiheit einer Gesellschaft, aber sie bringt nicht die Kunst in ihrer eigentlichen Form hervor. Die Kunst entsteht in einem anderen Raum. Und nicht die Kunst sucht die Auseinandersetzung mit unserer Welt, sondern unsere Welt befindet sich im Konflikt zu ihr, weil ihr die Kunst im Moment ihrer Entstehung nicht verständlich ist.

Еvgenij Kozlov, „Wenn ihr beginnt, Muskeln zu spüren", 118,5 x 155 сm, 1986
Sammlung Staatliches Russisches Museum

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Und nun gab es plötzlich einen neuen Malevitsch, einen neuen Tatlin, Larionov, El Lissitzki, Filonov, Rodschenko, Chagall, Kandinsky, eine neue Gontcharova, Popova. Das heißt, wenn wir uns für die 80er Jahre interessieren, dann stellen wir uns die Frage nach der russischen Kunst als Weltkunst.

Ich kann mich nicht an ein bestimmtes Datum oder an eine bestimmte Zusammenkunft erinnern, wo sich in einer Art Zeremonie die „Neuen Künstler“ als Gruppe konstituiert hätten. Das ist aber auch nicht so wichtig, daran erinnern sich andere. Jedenfalls, finde ich, wenn ich meine Tagebücher aus den Jahren 1979 bis 1983 mehr >> durchlese, darauf keinen Hinweis. Allerdings habe ich diese Tagebücher auch nicht als Chronist meiner Zeit geführt, sondern ich habe in ihnen meine künstlerischen Gedanken festgehalten. Da findet sich zum Beispiel am 10. 8. 1980, die Eintragung „Die Kunst ist frei, mutig, neu“, die die Forderung an die neue Zeit sehr gut trifft.

Еvgenij Kozlov, Umschlagseite des Magazins „Neue Künstler - Neue Mode“ 1984. Detail.
Еvgenij Kozlov, Umschlagseite des Magazins
„Neue Künstler - Neue Mode“ 1984. Detail.
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Rückblickend gesehen kann ich aber sagen, dass das Jahr 1982 in künstlerischer Hinsicht für mich ein entscheidendes Jahr gewesen ist: wegen meines Bildes „Noli Me Tangere“ mehr >>. Insofern passt diese Neuorientierung im Jahr 1982 sehr gut zur Gründung der „Neuen Künstler“. Mit den „Tuaregs“ beginnt eine Etappe in meinem künstlerischen Schaffen, die eine mehr erzählerische Periode ablöst. „Noli Me Tangere“  ist eine klar strukturierte Komposition mit fünf Tuaregs, die mit ihrer ungeheuren Präsenz eine Realität vermitteln, welche gleichzeitig zu dieser Welt und zur anderen Welt gehört. Für das Gemälde ist jedoch nicht diese statische Struktur das Bestimmende, sondern die neuartige Behandlung einzelner Elemente, seine farbliche Sättigung, die von der heißen Wüstenluft durchtränkt wird, die Verwendung von Motiven der Pop-Kultur in Collagetechnik sowie der Ausdruck der Gesichter und der Hände.

Dass ich mir der Bedeutung dieses Werkes bewusst war, sieht man an zwei Eintragungen in meinem Tagebuch.

Die erste ist undatiert: Die zweite ist vom Dezember 1982
Евгений Козлов - «ТУАРЕГИ» /обращение к будущим находкам в искусстве/. Евгений Козлов - с«ТУАРЕГИ» – это шедевр. Гениально. Полотно мне нравится все.

"TUAREGS" /Der Weg zu künftigen Ideenfindungen in der Kunst/. Die Technik als solche muss im Werk die Idee der Komposition enthüllen / Rembr. «Die Rückk. des verl. Sohnes» Eremitage / und nicht etwa der literarische Anteil der Abbildung, mit dem sich der Künstler als Autor bemüht, die Idee ins Bild hineinzubringen.

"TUAREGS" ist ein Meisterwerk. Genial. Das Gemälde gefällt mir vollkommen. Über einem Monat nach seiner Fertigstellung überprüfe ich die einzelnen farbigen Flächen im Verhältnis zu einander, ihre Verteilung, den Gesamteindruck, die Freude, wenn der Blick bei einer beliebigen Beleuchtung über die Oberfläche gleitet, die Kühnheit der Malerei, die neue Herangehensweise und die neuen Formen – alles erfüllt mich mit Befriedigung – mit dem großen Format habe ich eine solche Wirkung zum zweiten Mal nach einer einjährigen Arbeit erreicht.

Ich habe diese beiden Eintragungen so ausführlich zitiert, weil darin zwei Gedanken enthalten sind, die für jeden einzelnen der Neuen Künstler gelten. Zum einen, dass es um Impulse für eine zukünftige Kunst geht, eine Kunst, die erst noch entstehen wird. Zum anderen, dass dazu Kühnheit in der Malerei, eine neue Herangehensweise und neue Formen gefordert sind. Diese Positionen waren gewissermaßen das einigende Band der Gruppe, und man kann diese Begriffe als Wahlspruch der „Neuen Künstler“ ansehen. Der Name selbst, „Die Neuen Künstler“, ist gewissermaßen die logische Fortsetzung dieses Wahlspruchs. Insofern kann ich nicht einmal sagen, ob ein einzelner Künstler, Timur Novikov beispielsweise, sich diesen Namen ausgedacht hat. Dass aber Timur ein ausgesprochenes Gespür dafür hatte, bestimmte Tendenzen zu erkennen und auf den Punkt zu bringen, steht außer Zweifel.


Еvgenij Kozlov vor dem Gemälde «Noli Me Tangere» zum Bild >>
Fotografie: E. Kozlov
Еvgenij Kozlov vor dem Gemälde «Noli Me Tangere»

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Die «Neuen Künstler» und die «Nekrorealisten» 1982 - 1991. Ausstellung im Russischen Museum, 2010
Выставка в Государственном Русском музее « Удар кисти. Новые художники и некрореалисты 1982 - 1991»