Russische Kunst 1990 Seite 2


Hannelore Fobo über russische Kunst und anderes. Die Fragen stellte Allen Tager
Der Text wurde in russischer Sprache 2010 gekürzt veröffentlicht im Allen Tagers Buch «В будущее возьмут не всех»


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• • • Moskauer Konzeptualismus, Ausstellung Labyrinth, Sotheby's Moskau 1988, Neue Künstler • • •

Hannelore Fobo mit Igor Makarevich's Portrait von Erik Bulatov, Moskau 1989

Hannelore Fobo mit Igor Makarevich's Portrait von Erik Bulatov, Moskau 1989
Was war der Grund dafür, dass du ausgerechnet in die Sowjetunion gereist bist?

Hannelore Fobo: Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Meine Reise im Jahr 1990 war nicht meine erste Bekanntschaft mit Russland, besser gesagt, mit der Sowjetunion. Im Zusammenhang mit meinem Aufbaustudium über Osteuropa war ich bereits seit 1987 mehrmals zu Studienreisen in der Sowjetunion gewesen, unter anderem im Baltikum und im Kaukasus, dort in Georgien und Armenien. In jener Zeit beschäftigte ich mich mit verschiedenen Aspekten dieses Staates und seiner Völker, mit Geschichte, Wirtschaft und Politik, aber auch mit der frühen sowjetischen Architektur und Stadtplanung. Ich schrieb eine Arbeit über den Wettbewerb der 1930er Jahre zum Bau des Palastes der Sowjets in Moskau, welcher für mich unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Tendenzen der Architektur totalitärer Staaten von Interesse war. Selbstverständlich war mir die russische Avantgarde bekannt, ich hatte aber auch eine Vorstellung von der zeitgenössischen sowjetischen (beziehungsweise russischen) Kunst. Während meines Aufenthalts in Moskau im Sommer 1988 wohnte ich der ersten Auktion zeitgenössischer russischer Kunst durch «Sotheby’s« bei und besuchte die legendäre Ausstellung nichtoffizieller Kunst «Labyrinth». 1989 lernte ich bei einem weiteren Besuch Moskaus viele Künstler aus den Ateliers der «Furmanny» kennen sowie Künstler des Konzeptionalismus aus dem Umkreis von Iosif Bakshteyn [Backstein]. Diese Reise organisierte ich für einen kanadischen Freund, der damals Direktor der staatlichen Art Gallery of Ontario war. Außerdem begann man in der Zeit der Perestroika mit Ausstellungen zeitgenössischer sowjetischer / russischer Kunst in Berlin, und zwar sowohl im Westberlin als auch in Ostberlin. Ich erinnere mich an die Ausstellung von Ilya Kabakov, der 1989-90 in Westberlin mit einem Stipendium des DAAD lebte.


 Erste Auktion zeitgenössischer sowjetisch-russischer Malerei in der Sowjetunion durch das Auktionshaus «Sotheby'», Moskau, Sowincenter,  7. 7. 1988

Erste Auktion zeitgenössischer sowjetisch-russischer Malerei in der Sowjetunion durch das Auktionshaus «Sotheby'», Moskau, Sowincenter, 7. 7. 1988

photo: Hannelore Fobo, 1988

Warum also Russland? Vor meiner «russischen» Periode gab es eine westeuropäische Periode. Geboren und aufgewachsen bin ich in Westdeutschland, und noch zur Schulzeit bot sich mir die Möglichkeit, für drei Monate nach Frankreich zu gehen und dort die Schule zu besuchen. Ich war dreizehn Jahre alt und kann mit Bestimmtheit sagen, dass dieser erste intensive Kontakt mit einer anderen Kultur für meine intellektuelle Entwicklung ein ungeheuer wichtiger Impuls war, vor allem dank der Tatsache, dass ich französisch lernte und sprach. Schon als kleines Kind beschäftigte mich die Frage, wie man für einen Sachverhalt den entsprechenden Ausdruck, die entsprechenden Worte finden konnte. Ich bestand immer darauf, dass man «richtig» sprach. «Richtig» war für mich gleichbedeutend mit «schön». Und als ich 13 Jahre war, eröffnete sich mir ganz unerwartet und plötzlich eine neue Welt des «Richtigen», die ihre eigene Ästhetik besaß, dazuhin eine unglaubliche Schönheit der lautlichen Empfindung. Die innere «Stimmigkeit» verband sich mit der äußeren, die Schönheit der Logik mit der Schönheit der Melodik. Ich begann, darüber nachzudenken, wie die Zeit in bestimmte Kategorien eingeteilt wird: Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit, Dauer. Ich entwickelte eine große Vorliebe für die Feinheiten der grammatischen Formen, mit deren Hilfe man kleinste Nuancen des Sinnes ausdrücken kann, und überlegte mir: wenn jede Sprache ihr ganz eigenes System zur Behandlung der Zeit besitzt, dann ist es vielleicht so, dass auch jeder Mensch ein individuelles Zeitverständnis hat, in Abhängigkeit von der Sprache? Oder ist es doch möglich, dass man diese spezifischen Begrenzungen, die einem die eigene Sprache auferlegt, überwindet?Auf diese Frage fand ich keine Antwort, aber die französische Sprache wurde zu meiner ersten Liebe, zu einer echten und leidenschaftlichen Liebe. Und auf der Grundlage dieser persönlichen Erfahrung kam ich später zu der Überzeugung, dass es vielleicht aus der Sicht der wissenschaftlichen Forschung bequem ist, wenn man die Funktion der Rede oder irgendeines anderen Vorgangs, mit dem sich der geistige Mensch ausdrückt, als bloßes Zeichensystem auffassen will, welches Dinge widerspiegelt, dass man mit einer solchen Auffassung jedoch den schöpferischen Akt aus dem Vermögen des Menschen ausschließt. Das Widerspiegeln von etwas schließt eben aus dem Wortschatz den Begriff «Schöpfertum» aus und ersetzt ihn durch «Reproduktion». Ich spreche deshalb davon, weil ich in der Unfähigkeit, den schöpferischen Vorgang als solchen zu bestimmen, das Grundproblem der zeitgenössischen Kunsttheorie sehe.

 «Labyrinth», Moskau, Sommer 1988. Ausstellung mit Werken Moskauer Künstler, 1988, unter anderem von Yu. Albert, V. Mironenko, G. Pusenkoff, S Gundlach, А. Roiter, К. Zvezdochotov, B. Orlov, L. Тabenkin, D. Prigov.

«Labyrinth», Moskau, Sommer 1988
Ausstellung mit Werken Moskauer Künstler, 1988, unter anderem von Yu. Albert, V. Mironenko, G. Pusenkoff, S Gundlach, А. Roiter, К. Zvezdochotov, B. Orlov, L. Тabenkin, D. Prigov.

photo: Hannelore Fobo, 1988

Als ich die Schule beendete – übrigens ein naturwissenschaftliches Gymnasium mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Mathematik – erhielt ich ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, und dieses hat nicht nur vollkommen meinen Lebensunterhalt während meines Studiums abgedeckt (ich studierte in München und Westberlin Linguistik und Politische Wissenschaften), sondern ermöglichte mir auch Reisen und längerfristige Aufenthalte in verschiedenen Ländern West- und Südeuropas. Als ich das Studium beendete, sprach ich fließend englisch, französisch, spanisch, italienisch und portugiesisch. Ich fühlte mich mit diesen Sprachen vertraut, genauso wie mit den Menschen dieser Länder. Im Anschluß an mein Studium ging ich für einige Zeit nach Portugal zur Europäischen Kommission.

Andererseits hatte ich immer die Auffassung vertreten, dass Europa als Ganzes zusammengehört, und ich hatte mehrere Versuche gestartet, russisch zu lernen. Ich muss allerdings gestehen, dass sie nicht sehr erfolgreich waren, denn es war ja nicht möglich, in die Sowjetunion «einfach so» zu fahren, das heißt, auf eigene Initiative, ohne den Schutzmantel irgendeiner Organisation. Als sich mir dann die Gelegenheit bot, ein Aufbaustudium über Osteuropa am Osteuropainstitut der Freien Universität Berlin zu absolvieren, war meine Reaktion klar, das heißt, positiv, und ich kehrte aus Portugal zurück. Das war in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, zu Beginn der Perestroika, und die Volkswagenstiftung finanzierte dieses Aufbaustudium, weil man der Meinung war, dass man Spezialisten in Bezug auf Osteuropa benötigte. Selbstverständlich war ich auch dieser Meinung.

Es kann sein, dass dieses Interesse an Osteuropa, das sich zunächst auf die Politik und Geschichte richtete, eine logische Folge meiner Beschäftigung mit Westeuropa war. Ich schließe aber nicht aus, dass auch meine Biographie hierbei eine Rolle spielte. Ich bin ein westlich orientierter Mensch, geboren unweit von Stuttgart, aber mein Vater stammt aus dem Osten Deutschlands, aus einer kleinen Stadt im Südosten von Berlin. Dort leben Sorben, also Westslawen. Einige sprechen noch sorbisch, mein Papa zwar nicht, aber mein Großvater, was ich allerdings erst nach seinem Tod erfahren habe. Mein Nachname Fobo ist slawischen Ursprungs. Mir selbst hat das «Exotische» meines Nachnamens immer gefallen, und als ich Kind war, hatte ich einen heimlichen Stolz darauf, weil er mir wesentlich interessanter erschien als «Müller» oder «Schmidt», wie meine Klassenkameraden mit Nachnamen hießen.

Iosif Bakshteyn [Backstein]
														mit einer Skultptur von Igor Makarevich, 1989

Iosif Bakshteyn [Backstein] mit einer Skultptur von Igor Makarevich, 1989

photo: Hannelore Fobo, 1989

Das ist aber nicht alles. Parallel zu meinem Interesse an Geschichte und Politik wuchs auch mein Interesse an der Kunst, zunächst an der Kunst als Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen. Später, als allmählich Fragen der Philosophie und Religion in den Vordergrund rückten, insbesondere des Christentums, lenkte ich mein Augenmerk auf die Kunst als Mittel der Entwicklung individueller schöpferischer Fähigkeiten. In den vergangenen Jahren habe ich mich bemüht, dieses Interesse systematischer zu betreiben, und so besuche ich wieder Seminare und Vorlesungen an der Universität, lernte altgriechisch, um Platon, Aristoteles und die Evangelien im Original lesen zu können, beschäftige mich mit Erkenntnistheorie und Problemen der formalen Logik und der Prädikatenlogik, also mit den für mich grundlegenden Fragen, auf die ich eine Antwort suche: ich will verstehen, auf welche Weise ich ein Bewusstsein von meinem Zusammenhang mit der Welt erlangen kann. Mit anderen Worten, es gab in meinem Interesse einen Umschwung: wenn mich früher die Frage beschäftigte, welche gesellschaftlichen Faktoren das Individuum bestimmen, so will ich heute in erster Linie wissen, in welchen Umfang der einzelne Mensch sich selbst und die Gesellschaft schafft. Das ist die Frage nach dem schöpferischen, von gesellschaftlichen Bedingungen unabhängigen Menschen. Ich glaube, dass nur der schöpferische Mensch in der Lage ist, der Welt, die ihn umgibt, soziale Impulse zu geben. Und beim Kunstwerk handelt es sich um eine unter verschiedenen Arten des Schöpfertums.

Und obwohl die Kunst, die ich in Russland bis zum Jahr 1990 zu sehen bekam, sich im Ganzen in ihrem Potential nicht von dem unterschied, was ich aus dem Westen kannte, das heißt, sie war so gut und so schlecht wie die westliche und unterschied sich lediglich durch ihre Form, so spürte ich doch im Unterbewusstsein, dass es möglich war, in Russland eine tatsächliche schöpferische Unabhängigkeit zu finden.

Das war sozusagen der Impuls für meine Reise im Frühjahr und Sommer 1990. Man kann also nicht sagen, dass ich ganz unvorbereitet fuhr. Das Ziel, das ich mir gesteckt hatte, war, mir einen möglichst breiten und umfassenden Überblick über die zeitgenössische, damals noch sowjetische Kunstszene zu verschaffen. Ich wollte mir eine Antwort auf die Frage geben, was es mit der Einzigartigkeit des schöpferischen Aktes auf sich habe, das heißt, diese Frage entweder im positiven oder im negativen Sinne beantworten. Üblicherweise ging man ja davon aus, dass im Westen der freie Ausdruck in der Kunst zu finden sei, und im Gegensatz dazu hatte ich die Absicht, ihn in der Sowjetunion zu suchen. Diese Reise führte mich auch nach Riga, Odessa und Kiev. Einige Kontakte hatte ich bereits, andere ergaben sich direkt vor Ort. Mein umfangreiches Fotoarchiv über die russische Kunstszene, schwerpunktmäßig der Kunst St. Petersburg der ersten Hälfte der neunziger Jahre gewidmet, muss noch digitalisiert werden. Übrigens trifft das auch auf die Videokassetten Evgenijs aus dieser Zeit zu. Einen Teil des Archivs kann man bereits auf unserer Webseite www.e-e.eu sehen.

Aber wie ich dir schon am Anfang unseres Gesprächs gesagt habe: in dem Augenblick, als ich das Atelier «Russkoee Polee» betrat, war mir klar, dass ich die Antwort auf die Frage gefunden hatte. Und die Antwort war ein klares Ja.


Hannelore Fobo und Evgenij Kozlov bei der Ausstellung «2х3m» auf der Schlossbrücke in der Nacht vom 22. zum 23. Juli 1990. Leningrad / St. Petersburg

Hannelore Fobo und Evgenij Kozlov bei der
Ausstellung «2х3m» auf der Schlossbrücke in der Nacht vom 22. zum 23. Juli 1990. Leningrad / St. Petersburg

Deine Suche nach dem Neuen und die Begegnung mit einem «Neuen Künstler» erscheint ja folgerichtig. Das eine führt zum anderen. Wie ging es dann weiter?

Man muss die Dinge noch etwas genauer betrachten. 1990 existierten die «Neuen Künstler» als Gruppe bereits nicht mehr, und für mich waren die Künstler, denen ich begegnete, eigenständige Persönlichkeiten, und nicht etwa Mitglieder der einen oder anderen Gruppe. Und unter diesen Künstlern waren ja nicht nur «Neue», sondern auch ganz traditionelle, denn ich besuchte ja auch Ateliers in der Staatlichen Kunstakademie. Meine Absicht war ich wie gesagt, einen möglichst umfangreichen Einblick bekommen. In der Jahresausstellung der Akademie bekam man lange Reihen von Bildern zu sehen: Stillleben und Akte, die sich alle stark ähnelten und auf mich einen ausgesprochen formalen Eindruck machten. Andere Künstler standen dem Symbolismus nahe oder der typischen sowjetischen Variante des Surrealismus, wieder andere wählten die Sprache des Konstruktivismus und Kubismus. Ich denke schon, dass ich einen guten Überblick über die Verschiedenartigkeit der Stile bekam. Die «Neuen Künstler» waren für mich insgesamt sehr viel eigenständiger, frischer, dynamischer, lebendiger als alle anderen, die ich sehen konnte. Zwischen Evgenij und mir zeigte sich aber noch etwas Besonderes, was mit dem Ursprung seines Schaffens zu tun hat, eine gewisse Seelenverwandtschaft. Heute kann ich sagen, dass uns unsere Sicht der Dinge verbindet, die das Materielle nicht verleugnet, aber das Geistige nicht einfach als ein irgendwie geartetes mystisches Element unseres Daseins auffasst, was «droben im Himmel» seinen Sitz hat, und dem man sich allenfalls spekulativ nähern kann. Das Geistige ist eine konkrete Tatsache, die sich konkret im Materiellen manifestiert. Dort existiert es aber nicht einfach so, aus sich heraus und ohne uns, sondern wir entwickeln es aktiv, wenn wir denken und in der Folge handeln. Dann wandeln wir die Materie in Geist um. Es gibt verschiedene Arten von Aktivität, bei Evgenij drückt sie sich eher in der Schaffung eines neuen Sinngehaltes aus, bei mir in der Analyse dieses Sinngehaltes und in der Schaffung von Begriffen und Wörtern dafür. In dieser Hinsicht ergänzen wir einander, und deswegen fanden wir auch sofort Interesse aneinander, obwohl unsere Temperamente doch sehr verschieden sind. Es geschieht aber nicht alle Tage, dass man einen Menschen kennenlernt, der so wie man selbst ein wirkliches Verständnis von seiner Aufgabe in der Welt und für die Welt erlangen will. Für uns ist grundlegend das Verständnis voneinander als schöpferischer Person, im ursprünglichen Sinne des Wortes.


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