Ev.g.e.n.i.j ..K.o.z.l.o.v (E - E)                                                  


Hannelore Fobo

Schiller

Idee, Ideal und Schein in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen


1.
Die Suche nach der Wahrheit mit dem Kunstwerk



Der moderne aufgeklärte und in seiner Existenz sich isoliert fühlende Betrachter hat die Tendenz, in der subjektiven Gestalt des Kunstwerks Aufschluss zu suchen über das Objektive, die Wahrheit als vom Künstler Geoffenbartes. In dieser Anschauung von Subjekt und Objekt ist subjektiv alles das, was der Mensch als zu sich selbst gehörig empfindet und objektiv das, was ohne ihn existiert. Der Betrachter nähert sich dem Kunstwerk in der Hoffnung, mit dessen Hilfe seinem Ich, an dessen objektiver Existenz er zweifelt, weil er es nur subjektiv erleben kann, eine allgemeingültige Erkenntnis hinzuzufügen, sich selbst damit zu verobjektivieren, sich mithilfe der Wahrheit seiner selbst zu vergewissern.

Mit dieser Erwartung nähert er sich insbesondere Kunstgattungen, in denen Bilder erzeugt werden, welche aufgrund ihrer Beschaffenheit zum Vergleich mit der Wirklichkeit einladen und dabei doch deutlich unterscheidbar von ihr bleiben: Malerei und Bildhauerei. Der Begriff „Wirklichkeit“ soll hier und im Folgenden so verwendet werden, wie das auch Schiller getan hat: als stoffliche Wirklichkeit, die vom Subjekt unmittelbar durch die Sinne erfahren wird, und die im Gegensatz zu dem wie auch immer gearteten Objektiven steht, welches Allgemeinverbindlichkeit beansprucht und damit Wahrheit ist.

Insofern der Künstler bei der Herstellung seines Werkes gleichzeitig den Standpunkt des Betrachters einnimmt und seine Tätigkeit aus diesem Blickwinkel analysiert, gilt dieser Ansatz einer Selbstvergewisserung auch für einen großen Teil der gegenwärtigen Kunstproduktion. Er lässt sich am deutlichsten an den gegenüberliegenden Seiten eines Spektrums ablesen.

Auf der einen Seite befindet sich der Künstler, der als wahr prinzipiell dasjenige gelten lassen will, was als Realität – durch die Natur oder irgendeine Art menschlicher Bearbeitung bestimmt – sinnlich auf ihn einwirkt. Es ist dann Aufgabe des Künstlers, eine objektivere Wahrnehmung der Dinge hervorzurufen. Somit wählt er aus diesem „Reich der Erscheinungen“, wie Schiller es nennt, Teile oder einen Ausschnitt sozusagen als „Ready-made“, ordnet sie eventuell neu und präsentiert sie. Durch diese Handlung nimmt er eine Kontextverschiebung des sinnlichen Gegenstandes vor und erreicht eine neue Art der Wahrnehmung. Allerdings bleibt auch die neue Wahrnehmung subjektiv, denn einen allgemeinen – objektiven, wahren, allgemeingültigen – Charakter kann eine einzelne Wahrnehmung nicht annehmen. Die objektive Wahrnehmung bestünde nicht nur aus der Synthetisierung aller möglichen (ins Unendliche gehenden) Ansichten im Raum, sondern auch in der Zeit. Da aber alles Zeitliche der Veränderung unterliegt, gibt es keine Identität der sinnlichen Wahrnehmungen und somit innerhalb dieser nichts Objektives. Aus der Not eine Tugend machend, beschwören daher Künstler, die diese Richtung vertreten, den Täuschungscharakter der sinnlichen Wirklichkeit, über den sie mit ihrem Kunstwerk aufklären. Sie verfolgen den kritischen Ansatz und sind sich dabei in größerem oder geringerem Maße bewusst, dass auch das Kunstwerk, indem es eine sinnliche Gestalt annimmt, täuschen muss und es somit keinen Ausweg aus dem Dilemma gibt.

Auf der anderen Seite des Spektrums befindet sich der Künstler, für den die Wahrheit der zugrundeliegenden Idee eines Gegenstandes entspricht oder dem Verhältnis mehrerer Gegenstände zueinander. Dabei versteht er unter „Idee“ eine abstrakt-begriffliche Form; er wird daher in seinem Werk die Idee einem Begriff annähern, die sinnliche Gestalt an diese begriffliche Form anpassen oder ihr unterordnen, möglicherweise zugunsten einer reinen Textform aufgeben. Mathematische Strukturen, serielle Anordnungen, gleichmäßige Rhythmen und alle Arten von Wiederholungen, die sich durch Maßverhältnisse fassen lassen, geben diesem Ansatz einen wissenschaftlichen Einschlag. Daher auch die formelhafte Verwendung von Ausdrücken bei der Beschreibung solcher Werke wie „erforscht“, „setzt sich auseinander mit“, „verfolgt“.

Um die Idee in möglichst reiner Form zu bewahren, kann der Künstler die Ausführung eines Werkes auch ganz unterlassen, das heißt, ihm die sinnliche Existenz verweigern, indem er nur eine Art Handlungsanweisung fixiert, womit das Werk in der Andeutung, im Entwurf verbleibt. Der Künstler geht bis zur potentiellen Wirklichkeit und überlässt die Verantwortung für den Akt der Schöpfung einem anderen, dem Betrachter.

Wie auch immer seine Ausprägung ist: die Betonung eines so verstandenen objektiven Charakters des Kunstwerks, ob erreichbar oder per se unerreichbar, verleiht der konzeptuellen Kunst ihre Popularität. Ihr Anspruch, Strukturen der Realität freizulegen, letztere zu dekonstruieren, wie das Modewort eine Zeitlang hieß, liefert in der Regel das wichtigste Kriterium für die Beurteilung eines einzelnen Werkes. Sein sinnlicher Gehalt mag vielleicht in der intuitiven Betrachtung eine Rolle spielen; in der Kunstkritik muss sich das Werk seine Existenzberechtigung durch die Höhe seines aufklärerischen Anspruchs erkämpfen, dessen pädagogischer Impetus durch Zusatzinformationen gestützt wird beziehungsweise gestützt werden muss. Was der Künstler beabsichtigt und wie sich seine Absicht aus seiner Biographie erklärt – dies sind nicht nur unverzichtbare Zusatzinformationen. Sie bilden vielmehr die Perspektive, aus der heraus ein Zugang zum Kunstwerk gesucht wird.


2.
Die Voraussetzung zum Verständnis von Schillers Briefen:
der Unterschied zwischen „Idee“ und „immateriellem Phänomen“




Der Ansatz, im Kunstwerk zuallererst die Idee in ihrem begrifflichen Ausdruck zu würdigen – und das gilt ja genauso für die reine Malerei, deren Idee dann der Verzicht auf einen erzählerischen Inhalt ist –, bringt nicht nur die Schwierigkeit mit sich, für den sinnlichen Ausdruck des Kunstwerks nachvollziehbare Kriterien einer Beurteilung zu finden (bedeutend / weniger bedeutend). Es wird auch schwierig, die sinnliche Gestalt als solche überhaupt richtig zu behandeln. Hierbei kommt es zunächst darauf an, Idee nicht mit Begriff gleichzusetzen (die Idee der Schönheit ist nicht gleich dem Begriff Schönheit, sie wird durch diesen nur hilfsweise erfasst), sodann aber Idee und sinnliche Gestalt strikt auseinanderzuhalten. Die Idee wird innerlich wahrgenommen, die sinnliche Gestalt über die Sinne vermittelt. Die Idee ist für die Sinne unsichtbar, denn nur was durch die Sinne wahrgenommen wird, ist strenggenommen eine Erscheinung, ein Phänomen, weil der Begriff der Erscheinung bereits auf den Täuschungscharakter der sinnlichen Wahrnehmung hinweist, der Begriff der Idee auf den Wahrheitsgehalt einer Sache.

In welchen Verhältnis Idee und sinnliche Wirklichkeit stehen, kann nur dann Gegenstand von Überlegungen sein – und im Übrigen Gegenstand von Schillers Briefen –, wenn diese Begriffe gedanklich getrennt bleiben. Es besteht jedoch die Neigung, der Idee zumindest ansatzweise eine sinnliche Existenzform zu verleihen.

Ich zitiere aus dem Ausstellungstext zu „notation“ mit dem Untertitel „Kalkül und Form in den Künsten“ (Akademie der Künste, Berlin 2008):

„Die Moderne hat die geistige Seite der Existenz, immaterielle Phänomene, das Ephemere als Forschungsfeld der Künste wieder entdeckt.“

Ein „immaterielles Phänomen“ ist solch eine typische Begriffskombination, die zunächst einmal einleuchtend sein mag, aber einer näheren Betrachtung nicht standhält. Diesbezüglich ist ein kleiner semantischer Exkurs hilfreich.

Das „Phänomen“ hat seinen Ursprung im Griechischen als Partizip des Verbes φαίνομαι (phainomai), sich zeigen, erscheinen, und bedeutete ursprünglich nichts anderes als die der Zeit unterworfene Erscheinungsweise der Gestirne, das heute-so-morgen-so (im Unterschied zur ihrem tatsächlichen Sein, welches ihre wirkenden Kräfte miteinschließt); dann generell alles, was eine Erscheinung, ein Scheinendes angenommen hat: kurz, einen Schein. Um eine Erscheinung werden zu können, für die Sinne wahrnehmbar sein, müssen diese Sinne zunächst vorhanden sein, diese nehmen aber nur den sinnlichen Gehalt einer Seinsweise wahr; wir reden dann von einem materiellen oder stofflichen Gehalt. Die Seinsweise tritt für die Sinne heraus (griechisch ἐξ-ίσταμαι, ex-istamai, lat. ex-sisto, existieren) in die materielle Existenz, in der sie sich allerdings nicht erschöpft.

Ein immaterielles Phänomen ist somit eine materielle Erscheinungsweise, welche keine Materie hat und damit ein Widerspruch in sich.

Wenn mit dem „immateriellen Phänomen“ dasjenige gemeint ist, was den Erscheinungen zugrunde liegt, ohne selbst Erscheinung zu sein, so ist es zutreffender, von der Idee oder wenn verständlicher auch von der immateriellen Idee zu sprechen. Die Idee (ἰδέα, idea) ist aber verwandt mit dem Verb für „sehen“ – εἶδον (eidon), ich sehe –, welches eine Vergangenheitsform ist, ein Aorist, der als Präsens verwendet wird. Die Idee verweist also auf das Gesehene. Von diesem εἶδον wiederum ist das Verb für „wissen“ abgeleitet: οἶδα (oida), ich weiß, das als Perfekt aber resultative Bedeutung hat, nämlich eigentlich „ich habe gesehen und daher weiß ich“. Entsprechendes gilt für die gemeinsame Wortwurzel von „sehen“ und „wissen“ im Deutschen.[1]

Das Sehen der Idee ist ein besonderes Sehen. Sie wird in den Mysterien als geistige oder innere Schau erlebt. Die Vermittlung eines solchen geistigen Sehens an Personen, die nicht eingeweiht sind, ist Inhalt der platonischen Schriften, insbesondere des Timaios’. Die Idee wird damit aber Inhalt des logischen Denkens, der Dialektik. Sie bekommt eine konkurrierende Bedeutung in Richtung unserer heutigen Verwendung der Idee im Sinne des „Begriffs“, als Bezeichnung für einen Sachverhalt, der mithilfe der Sinne wahrgenommen wird – das oben erwähnte „Phänomen“. Man könnte sagen, die Entwicklung des Begriffs des „Begriffs“ wird durch Platon eingeleitet.

Doch dem Grunde nach liegt die „Idee“ im Griechischen vor dem Begriff und erst recht vor der Erscheinung, vor der materiellen Offenbarung; in der Materie liegt sie aber verzaubert. Die Materie ist also schon nicht mehr Idee (Idee = Wahrheit), sondern Schein der Idee, nicht aber die Idee mit ihrem Glanz, ihrem Schein. Man könnte sagen, die Materie ist nur scheinbar Idee. Die Idee zeigt sich hier als εἴδωλον (eidolon), Idol, genauer, Abbild, Trugbild. Platons Auffassung der Idee als den Sinnen verborgene Wahrheit, einer Wahrheit, die sich den Sinnen nur als Schatten zeigt, wie sie in seinem berühmten Höhlengleichnis zum Ausdruck kommt, geht mit der Wortbedeutung der griechischen Begriffe idea und eidolon einher.

Die Verknüpfung von „immateriell“ und „Phänomen“ ist ein Hinweis darauf, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Ideen sinnfrei zu erleben, das heißt, die geistige Existenz der Idee so real zu erleben wie eine sinnlich wahrnehmbare physische Existenz – oder auch nur die Existenz einer sinnfreien Idee für möglich zu halten. Wir benötigen zwar die Idee zur Erklärung der Welt, behandeln sie aber doch nur als erdachte (abstrakte, erfundene, hinzugedachte) Realität, als zusammenfassenden Begriff für einen jeweiligen Sachverhalt, welche Auffassung in jeder Art von Nominalismus zum Tragen kommt. Um der Idee Realität zuzugestehen, müssen wir ihr zumindest den Hauch einer Sinnlichkeit verleihen, sie zum immateriellen Phänomen machen.

Konsequent weitergedacht heißt dies: für den modernen Menschen ist nicht mehr die sinnliche Existenz Schein oder Schatten der geistigen, sondern die geistige Existenz ist Schein der wirklichen. Dies ist die Wende von Hegel zu Marx. Die geistige Existenz ist uns zum immateriellen Phänomen geworden – zum Schein der Wirklichkeit. In einem nächsten Schritt kann aber die Wirklichkeit selbst auch nicht Wahrheit sein, denn sie löst sich bei näherer Untersuchung in Begriffe auf – wir können die Wirklichkeit nicht anders erkennen als durch Begriffe, und diese führen wiederum zu Ideen. Wenn man nun den Gedanken bis zu seinem Ende verfolgt, so ist alles Erscheinung, die Idee ist Erscheinung und die Wirklichkeit, sobald sie erkannt wird, ist Erscheinung. Um zur Wahrheit zu gelangen, müssten wir uns, da wir keinen festen Grund bekommen, wie Münchhausen an unserem eigenen Schopf aus der Welt der Erscheinungen ziehen. Oder wir müssen wie Kant uns noch ein „Ding an sich“ hinzudenken, – etwas Gedachtes, das weder Erscheinung noch Idee ist und dem Denken nicht zur Verfügung steht. Etwas Gedachtes, was nicht gedacht werden kann.

Ich habe dieses Grundproblem philosophischen Denkens angedeutet, weil es meiner Meinung nach verantwortlich ist für eine einseitige Betrachtung des Kunstwerks, die wesentliche Aspekte der Kunstschöpfung außer Acht lässt.

Das Problem der ursprünglichen Existenz von Idee oder Materie, und wie das, was zuerst in die Welt trat, einen Anfang nahm beziehungsweise nehmen konnte, sowie die daraus abgeleitete Frage, was Schein und was Realität ist – ob die Materie eine Erscheinung der Idee oder die Idee eine Erscheinung der Materie ist und welche Argumente uns für die Entscheidung dieser Frage zu Verfügung stehen –, ist nicht Gegenstand dieses Essays.

In diesen Betrachtungen geht es zunächst um die Schwierigkeit, sich überhaupt eine Vorstellung von einer „immateriellen Idee“ zu machen, genauer: von der Wirksamkeit einer Idee, die ganz Idee ist, die nicht in homöopathischer Dosis noch oder schon Materie aufweist, welcher man die wirkende Kraft zusprechen kann. Die Idee, die über den Begriff hinausgeht, ist eben kein gespensterhaftes „immaterielles Phänomen“, sondern wirkt durch sich selbst. Sie ist Realität (Substanz), ohne Materie zu sein. Dann kommt es aber darauf an zu untersuchen, in welcher Weise die Idee denn wirksam ist und welche Wechselbeziehung zwischen ihr und der sinnlichen Wirklichkeit besteht.

Das bedeutet, solange man die Idee nicht schauen kann, ihr doch diese sinnfreie Existenzform zuzugestehen, ihr diese Möglichkeit einzuräumen und darauf zu verzichten, ihr eine materielle Existenz innerhalb einer einzelnen konkreten Erscheinung geben zu wollen.

Diese Auffassung ist alles andere als eine Entmündigung der Idee. Existenz einer konkreten Einzelerscheinung und deren Existenz als Idee können ja nie zusammenfallen, ohne dass eine der beiden Existenzformen Schaden nimmt. Gerade davon ist bei Schiller ausführlich die Rede. Der Fehler des idealistischen Kunstbegriffs im Sinne Hegels ist es, sich darüber hinwegzusetzen und im Kunstwerk die verwirklichte Idee zu sehen.

Dies ist die These, die in diesem Aufsatz vertreten wird. Der Anlass für diesen Versuch ist, dass ich in der modernen Kunstkritik, soweit es die bildende Kunst betrifft, ein erhebliches Defizit an Kriterien zur ästhetischen Beurteilung eines Kunstwerks beobachte. Im Unterschied zu den anderen Kunstgattungen Musik, Tanz, Film, Theater, Literatur ist es in der bildenden Kunst die Regel geworden, der Intention des Künstlers ein Übergewicht zu geben gegenüber der ästhetischen Qualität seines Werks, ganz so, als ob mit der Beschreibung der Idee in dürren Begriffen das Wesentliche des Kunstwerks erfasst sei, unter der Bedingung eben, dass das Kunstwerk eine verwirklichte Idee ist.

Mag sein, dass die Ursache davon ist, dass die Intention mit ihrer Idee annähernd objektiv-sachlich beschrieben werden kann, während die Beurteilung der ästhetischen Qualität eines Werkes an Geschmackskriterien gebunden ist, die schwieriger zu begründen sind, da sie nicht vorgeben können, bloß objektiv zu sein. Allerdings gilt diese Schwierigkeit auch für die anderen Kunstgattungen, und sie unterliegen nicht dieser einseitig abstrakten Beurteilung.

Mir scheint, dass die Überbetonung der Idee durchaus kein Fortschritt im Verständnis der Kunstschöpfung ist, sondern ein Rückschritt. Man wollte die Bildende Kunst aus der Abhängigkeit vom Abbildungscharakter befreien, den sie im Übrigen nie besessen hat, und hat sie unter die Abhängigkeit der Idee, konkreter noch, der kritischen Idee gestellt.

Bezüglich dieser Auffassung, dass ein Kunstwerk nicht gleichzusetzen ist mit der Verwirklichung einer Idee, (und schon gar nicht mit der Verbildlichung eines Begriffes), sondern dass eine solche Betrachtungsweise der künstlerischen Schöpfung nicht gerecht wird, gibt es eine Schrift von Friedrich von Schiller, die für das Verhältnis von Idee und Wirklichkeit in der Kunst grundlegend ist.



3.
Friedrich von Schiller als Begründer einer Ästhetik



In seinen bedeutenden „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1794/95 [2] hat Schiller ausführlich dargelegt, welche Möglichkeit es gibt, das Kunstwerk nicht als Verwirklichung der Idee zu sehen, und dabei dennoch nicht auf die Idee zu verzichten. In diesen 27 Briefen wird nicht einfach der idealistische Kunstbegriff zurückgewiesen, sondern ausgeführt, auf welche spezifische Art und Weise die Idee im Menschen und seinem ästhetischen Handeln wirksam ist. Daran anknüpfend zeigt Schiller, dass die Kunst eine eigenständige Aufgabe bei der Entwicklung des Menschen hat, die auch von keiner anderen menschlichen Tätigkeit übernommen werden kann. Mit dem Begriff des ästhetischen Scheins führt er einen ausgesprochen produktiven Gedanken in die Kunsterkenntnis ein, dessen Fruchtbarkeit nicht in dem Maße erkannt wurde, wie sie erkannt werden müsste. Es ist nicht so, dass seine Schrift keine Rolle spielt in der Theorie der Ästhetik, doch begnügt man sich häufig mit dem Zitieren einiger weniger Formeln, in erster Linie der Aussage, dass der Mensch nur dann ganz Mensch sei, wenn er spielt. Denn dies scheint zunächst mit einer modernen Auffassung eines „spielerischen“ Vorgehens einherzugehen, eines experimentellen, ungerichtet forschenden, nach allen Seiten offenen.

Dass Schillers Verständnis des Spieles alles andere als trivial ist, dass dieses „Spiel“ größte Anforderungen an die menschliche Verantwortung stellt, weil die Kunst um der Kunst Willen zur höchsten Steigerung der Tätigkeit des Menschen führt, und dass es hierzu einer „totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise” bedarf, wie es im letzten der Briefe heißt – all dies wird dabei übersehen.

Allerdings ist die Lektüre dieser Briefe auch nicht einfach. Es bereitet Schwierigkeiten, sich durch Schillers dialektischen Gedankengang hindurchzuarbeiten, ohne den Faden zu verlieren, und insbesondere bereitet dies Schwierigkeiten, wenn es nicht gelingt, Idee und Wirklichkeit getrennt zu halten, so wie in der Einführung beschrieben. Noch schwerer ist es, Schillers Gedanken auf eine Kernaussage zurückzuführen, die in ihrer Kürze nicht trivial wirkt wie der oben erwähnte Gedanke des Spiels.

Auf den folgenden Seiten habe ich diesen Versuch unternommen. Ich habe dies getan, um Klarheit über einen möglichen Ansatz für die Beurteilung der ästhetischen Qualität eines Kunstwerks zu gewinnen. Schillers Begriff der „lebenden Gestalt“ stellt für mich ein solches Kriterium dar. Die Beschäftigung mit den „Briefen“ führt aber auch zu einer anderen Erkenntnis: Schillers Aussagen gründen auf seinem eigenen Erlebnis mit der Kunst, sie sind der Versuch, dieses Erleben verständlich zu machen, und die „lebende Gestalt“ ist aus dem Erleben heraus formuliert. Das gibt ihr Gewicht.

Schiller ist Künstler, der sein künstlerisches Tun reflektiert und zu allgemeinen Aussagen kommt. Seine Ausführungen sind daher nicht spekulativ, sondern auf genauer Beobachtung beruhend, indem er nämlich seine eigene Tätigkeit in ihrem Vollzug beobachtet und Schlussfolgerungen zieht. Anderseits sind seine Schlussfolgerungen nicht einfache Ableitungen aus seinen Beobachtungen, sondern produktive Verknüpfungen. Er ist als Künstler produktiv, und er ist als Ästhetiker produktiv. Dieses doppelte Talent Schillers macht die Lektüre seiner „Briefe über ästhetische Erziehung des Menschen“ so gewinnbringend.



4.
Idee und Ideal



Eine Schwierigkeit, die sich beim Lesen des Textes ergibt, beruht auf der Tatsache, dass Schiller zentrale Begriffe, die er benutzt, nicht ganz eindeutig voneinander abgrenzt. Das betrifft zum einen das Begriffspaar Idee – Ideal und zum anderen das Begriffspaar Form – Gestalt. Letzteres wird im Kapitel Die Einzelerscheinung mit dem Charakter des Allgemeinen behandelt.

Mir scheint, dass man die Unterscheidung von Idee und Ideal folgendermaßen treffen kann:

Die Idee hat für Schiller als Vernunftidee einen objektiven Charakter. Auf welche Weise sie existiert und ob sie vom Menschen auch geschaffen wird, mitgeschaffen wird oder neu geschaffen wird, ob sie im Sinne Hegels von der unbewussten zur bewussten wird, wenn der Mensch sie schafft, oder ob sie ohne den Menschen bereits fertig existiert, gehört nicht zu den Fragen, die Schiller in erster Linie interessieren.

Was der schillersche Mensch erzeugt, ist zunächst einmal nicht die Idee, sondern das Ideal.

Dazu heißt es im 9. Brief:

„Der Künstler [...] aber strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen. Dieses präge er aus in Täuschung und Wahrheit, präge es in die Spiele seiner Einbildungskraft und in den Ernst seiner Taten, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit.“

An dieser Stelle spricht Schiller von der Erzeugung des Ideals nicht nur unter dem Aspekt des (Vernunft-) Notwendigen, wie er es an anderen Stellen tut, etwa im 15. Brief, wo vom „Ideal der Schönheit, welches die Vernunft aufstellt“ die Rede ist, oder im 17. Brief, wo zunächst die allgemeine Idee der Schönheit aus dem Begriff der menschlichen Natur abgeleitet wird, dieser unmittelbar aus der Vernunft geschöpft wird und „mit dem Ideale der Menschheit [ … ] zugleich auch das Ideal der Schönheit gegeben” ist.

Wenn auch die Verwendung des Begriffs „Ideal“ nicht eindeutig ist und fließende Grenzen zur Idee hat, so lässt sich doch sagen, dass Schillers Ideal mehr der menschlichen Tätigkeit zugeordnet ist und dieser aus sich heraus einen dynamischen Charakter, eine Richtung gibt, während die Idee eher das zugrundeliegende Eigentliche ist, welches unbestreitbar schöpferisch ist, aber von der Vernunft aufgestellt wird; die Vernunft aber ist so lange und um so viel außerhalb des Menschen, wie der Mensch nicht selbst zum vernünftigen wird.

Die Beziehung der Idee / des Ideals zum Kunstwerk entfaltet Friedrich von Schiller in seinen Briefen. Dass die Erzeugung eines schönes Scheins im Kunstwerk mithilfe des Ideals für ihn etwas anderes ist als die Verwirklichung der Idee mithilfe des Kunstwerks, geht eindeutig aus seiner Argumentation hervor, und ich werde dies im Folgenden ausführlich darlegen. Allerdings steht dieses Argument nicht im Zentrum seiner Argumentation, sondern klärt sozusagen die Bedingungen, unter denen der Mensch zum freien werden kann, aus dem wiederum der sittliche sich erst entwickeln kann. Der subjektive Mensch, der sich zum objektiven und sittlichen machen soll, vom Individuum zur Person, kann dies nur durch Freiheit und nicht durch Zwang erreichen. Welche logischen Probleme sich aus der Verknüpfung von Subjekt, Objekt und Freiheit ergeben, ist für Schiller wiederum kein vordringliches Thema. Als Künstler erlebt er den Zusammenhang, den er als Philosoph beschreibt.


5.
Der Stoff und sein schöner Schein



Es geht Schiller also um die Erzeugung des Ideals und seine Ausprägung im Stoff, wie er die Materie nennt. Der Stoff im Sinne der einzelnen Erscheinung besitzt die Idee nicht, da sich die Idee als solche, um mit Goethe zu sprechen, nur in der Gesamtheit der Erscheinungen und nicht im Einzelfall verwirklicht. Der Künstler kann aber den Stoff so behandeln, als ob dieser die Idee bereits besäße, indem er ihr ein Ideal einprägt, das er erzeugt. Damit verleiht er dem Gegenstand den „schönen Schein“. Der „schöne Schein“ ist ein Schlüsselbegriff in Schillers Abhandlung, der allerdings in dieser Form erst im 26. Brief auftritt, wo er von der „ganzen Kunst des schönen Scheins“ spricht. Dies ist auch der einzige Schein, den Schiller anstrebt. Der schöne Schein am Stoff gibt nicht vor, Vernunftwahrheit zu sein, er unterscheidet sich von der Wahrheit. Würde er vorgeben, Wahrheit zu sein, so wäre er kein ästhetischer Schein, sondern logischer Schein und damit Betrug. Weiter erklärt Schiller im 26. Brief die Schwierigkeit, die sich dem Verständnis für den schönen Schein entgegenstellt:

„Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine gewisse Affinität miteinander, dass beide nur das Reelle suchen und für den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind. [...] die Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben und der Verstand nicht unter der Wahrheit stehenbleiben.“

Wie schwer dieser Unterschied zwischen Idee und Ideal festzuhalten ist, zeigt das folgende Beispiel.

In einem Werkstattgespräch mit Joseph Beuys äußert ein Teilnehmer die Meinung „... dass das mehr oder weniger anschaubar Ideenhafte, indem ich es künstlerisch handhabe, individualisiert wird, und in diesem Individualisierungsvorgang eben nicht ein Erkenntnisvorgang drinliegt, sondern ein Hereinholen der Idee in die Wirklichkeit, so dass Erscheinungen entstehen [...] anhand von Materialien oder, sagen wir einmal Strichkombinationen oder ähnlichem. So dass auf der einen Seite das Allgemeine und auf der anderen Seite sozusagen die radikalste Subjektivität, nämlich dadurch, dass nur einer es machen kann, in der Kunst zur Erscheinung kommt.“[3]

Das „Hereinholen der Idee in die Wirklichkeit“ ist in dieser Weise aber eigentlich gar nicht unterschieden von dem Schaffen eines wissenschaftlichen Begriffes, der über Naturzusammenhänge Aufschluss gibt. Wenn ich den Begriff der Schwerkraft schaffe und anschließend mit ihm technische Apparate erfinde, so habe ich damit eine Idee in die Wirklichkeit versetzt, in dem Sinne, dass ich davon ausgehe, dass die Schwerkraft als Idee bereits ohne den Menschen wirksam war (existierte), bevor sie durch den Menschen durch die entsprechende Umgestaltung des Stoffes eine weitere Wirksamkeit erfährt.

Er stellt sich dann jedoch die Frage, wozu die Kunst mit ihrer subjektiven Schöpfung gut sein soll, wenn sie im Gegensatz zur Erfindung gar keinen Nutzen bringt außer möglicherweise demjenigen, der sie geschaffen hat. Die Kunstschöpfung hätte dann einen grundsätzlich antisozialen Charakter, und man könnte sie allenfalls als eine mehr oder weniger gelungene Bebilderung einer Idee gelten lassen: als Allegorie – oder ihr eben eine aufklärerische Aufgabe zuweisen.

Das „Hereinholen der Idee in die Wirklichkeit“ muss daher für das Kunstschaffen unbedingt ergänzt werden durch die Beschreibung der Art und Weise, wie sich denn die Idee im Kunstwerk Wirklichkeit verschafft. Und spezifisch für das Kunstwerk ist, wie Schiller ausführt, dass im Kunstwerk der Stoff auf eine solche Weise umgeschaffen wird, dass die Idee den Stoff idealisiert, indem sie ihm einen schönen Schein verleiht. Der schöne Schein zeigt die Idee „nur“ als künstlerisches Ideal. Diese ästhetische Qualität wiederum hat eine Konsequenz für den sittlichen Menschen, von der später die Rede sein wird. (Inwiefern auch Naturideen sittliche Konsequenzen ergeben, ist ein Thema für Goethe, nicht für Schiller.)

Es handelt sich beim Schaffen eines Kunstwerks also gerade nicht um das Hereinholen der Idee in die Wirklichkeit solcherart, dass wir nun die Idee in einer materiellen Existenz vor uns haben, auch nicht um die Idee in der Form einer Allegorie, sondern um eine Idealisierung der Wirklichkeit durch einen schönen Schein, den diese Wirklichkeit „in Wirklichkeit“ gar nicht besitzt. Dieser „schöne Schein“ ist subjektiv, durch den Künstler geschaffen. Dies entspricht der oben zitierten Aussage der „radikalsten Subjektivität, nämlich dadurch, dass nur einer es machen kann“. Gleichzeitig tut dieser schöne Schein aber so, als ob er objektiv sei, einer Idee entspräche: das ist sein Inhalt, deshalb ist er Schein.

Die Unterscheidung zwischen einer Idee, die durch ein Subjekt eine materielle Existenz bekommt und einer Wirklichkeit, die vom Subjekt idealisiert wird, ist grundlegend. Die stoffliche Realität des Kunstwerks soll nicht den Anspruch erheben, Vernunftgesetze (Ideen) zu repräsentieren, auch nicht in subjektiver Form - was im Übrigen ein Widerspruch wäre, denn wie soll etwas Objektives einen subjektiven Charakter bekommen?

Mit diesem Anspruch würde der Künstler laut Schiller vielmehr seine Aufgabe verfehlen. Es heißt dazu im 26. Brief:

„Sie sehen hieraus, dass der Dichter auf gleiche Weise aus seinen Grenzen tritt, wenn er seinem Ideal Existenz beilegt, und wenn er eine bestimmte Existenz damit bezweckt. Denn beides kann er nicht anders zustande bringen, als indem er entweder sein Dichterrecht überschreitet, durch das Ideal in das Gebiet der Erfahrung greift und durch bloße Möglichkeit wirkliches Dasein zu bestimmen sich anmaßt, oder indem er sein Dichterrecht aufgibt, die Erfahrung in das Gebiet des Ideals greifen lässt und die Möglichkeit auf die Bedingungen der Wirklichkeit einschränkt.“

In dieser Feststellung wird in sehr komprimierter Weise der Konflikt zwischen Subjektivem und Objektivem definiert:

Auf zweierlei Weise verfehlt der Dichter seine Aufgabe, sobald er versucht, Subjektives (Existenz in der Wirklichkeit) und Objektives (Idee, Existenz in der Wahrheit) zusammenzubringen. Zum einen, wenn er einem aus der Idee geborenen Ideal Existenz beilegt. In diesem Fall begnügt er sich nicht damit, seinem Ideal eine scheinbare Existenz in der Wirklichkeit als Kunstwerk zu verleihen, sondern fordert von seinem Ideal, dass es eine tatsächliche Existenz in der Wirklichkeit schaffe (nicht als Kunstwerk, sondern als Erfahrung); damit aber greift er in die Erfahrung, in die sinnliche Wirklichkeit ein. Denn die Erfahrung kennt keine tatsächliche Existenz des Ideals. Wenn der Dichter die objektive Existenz (Idee) mithilfe des Ideals in eine subjektive Existenz (Erfahrung) wandeln will, fügt er der Wirklichkeit etwas hinzu, was diese nicht kennt, das heißt, er missachtet die Erfahrung. Er überschreitet sein Dichterrecht.

Die andere Möglichkeit der Verfehlung besteht darin, dass er das, was er lediglich aus der Erfahrung kennt – als Subjektives – zu einem Objektiven erklärt, es zum Ideal erhebt. Er gibt sein Dichterrecht auf, welches darin besteht, die Idee in ihrer möglichen Erscheinung zu zeigen, die sie allerdings nur im schönen Schein des Ideals hat. Wie im oben genannten Fall will er sich mit diesem schönen Schein nicht begnügen, er braucht für sein Ideal eine wirkliche Existenz. Die verschafft er sich jetzt aus seiner Erfahrung. Er will nicht einsehen, dass sich das Ideal (nach unserer Unterscheidung von Ideal und Idee besser: die Idee) in der Wirklichkeit nie vollständig ausbildet, dass ihm daher auch keine Erfahrung das Ideal (die Idee) zeigen kann. Dadurch, dass er dem Ideal (der Idee) eine bestimmte Erscheinung zuordnet, die er schon kennt, raubt er ihm (ihr) die Potenz, sich einmal so, ein anderes Mal anders zu zeigen, schränkt er die Möglichkeit auf die Wirklichkeit, das Vollständige auf das Unvollständige ein.

Erstere Verfehlung entspricht einem unvermittelten Hereinholen der Idee in die Wirklichkeit, letztere dem Hereinholen der erfahrenen Wirklichkeit in die Idee. Es gibt jedoch eine dritte Möglichkeit, wie Erfahrung und Idee, Subjektives und Objektives miteinander in Beziehung gesetzt werden können, ohne sich gegenseitig Gewalt anzutun.


6.
Sinnlicher Trieb, Formtrieb und Spieltrieb



Wie kommt der Mensch dazu, über die reine Erfahrung hinauszugelangen? Weshalb spricht er von Ideen, weshalb erzeugt er Ideale?

Schiller begründet das mit zwei entgegengesetzten Trieben, die auf den Menschen wirken: dem sinnlichen Trieb und dem Formtrieb. Sie wirken getrennt und dürfen nicht miteinander gemischt werden (13. Brief). Der sinnliche Trieb begrenzt den Menschen auf eine zeitliche Erfahrung, denn durch ihn allein empfindet der Mensch das Gegenwärtige. Der sinnliche Trieb macht Fälle, die oben erwähnte bestimmte Existenz, das Subjektive. Der Formtrieb führt den Menschen zur Idee, zum Objektiven. Er gibt Gesetze, entscheidet für immer und ewig.

Wird nun die Idee in einer Gesetzesform für die Wirklichkeit als verbindlich bestimmt, so vernichtet sie die Mannigfaltigkeit der Natur. Der Formtrieb agiert wie der Dichter, der sein Dichterrecht überschreitet, eine Möglichkeit zur Wirklichkeit macht und die bereits existierenden Fälle nicht gelten lässt (die erste der beiden Verfehlungen). Daher darf der Formtrieb nicht allein bestimmen: der Staat (= das Gesetz)

„soll nicht bloß den objektiven und generischen, er soll auch den subjektiven und spezifischen Charakter in den Individuen ehren und, indem er das unsichtbare Reich der Sitten ausbreitet, das Reich der Erscheinung nicht entvölkern.“ (4. Brief).

Um dies zu erreichen, braucht es einen dritten Trieb, der zwischen sinnlichem Trieb und Formtrieb vermittelt. Diesen dritten Trieb nennt Schiller den Spieltrieb; er ist darauf gerichtet „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“ (14. Brief) Weiter heißt es im Text:

„Der sinnliche Trieb will bestimmt werden; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen; der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.“

Wir sehen hier, dass ein jeder der Triebe auf eine spezifische Weise wirkt. „Der sinnliche Trieb will bestimmt werden“ heißt vollständig ausgedrückt, der Mensch will durch den sinnlichen Treib bestimmt werden, es wirkt etwas auf ihn ein, und die Eindrücke, die er im Ergebnis erhält, kann er beschreiben. „Der Formtrieb will selbst bestimmen“ bedeutet, dass der Mensch den Formtrieb aktiver empfindet, der Formtrieb drängt auf ein Ergebnis, nämlich Regeln aufzustellen, mit deren Hilfe ein Objekt erst hervorgebracht werden kann, auch diese Aktivität lässt sich beschreiben. Jedoch entspricht das hervorgebrachte Objekt keinem Eindruck, den der Mensch durch den sinnlichen Trieb erhält.

Will nun der Mensch in diesem Dualismus der Triebe zu sich selbst als ganzem Menschen zurückfinden, so benötigt er als dritten Trieb den Spieltrieb. Mit Hilfe des Spieltriebs stellt sich der Mensch Eindrücke vor, die er empfangen möchte, die ihm die Wirklichkeit aber nicht geben kann. Dann tritt er gewissermaßen aus sich selbst heraus und erzeugt eine Scheinrealität, deren Objekte so gestaltet werden, dass sie die Eindrücke erzeugen, die der Sinn empfangen will. Für seine Sinne haben diese Objekte nichts Willkürliches an sich, im Gegenteil, sie wirken auf ihn mit größerer Objektivität als die Erscheinungen der Wirklichkeit, weil er sie so geschaffen hat, als ob sie nicht durch ihn geschaffen seien, sie sind scheinbar objektiv – sie sind ästhetischer Schein.

Mit Hilfe des Spieltriebs also erzeugt der Künstler den ästhetischen Schein, und dieser kann auch nur mit Hilfe des Spieltriebs erzeugt werden.

Nun kann man sich natürlich fragen, welche Berechtigung denn die Kunstschöpfung als ästhetischer Schein haben soll über die subjektive Befriedigung für die Kunstschaffenden oder Kunstgenießer hinaus, wenn es ihr weder um einen Eingriff in die Wirklichkeit geht noch um die Verbildlichung von Wahrheit. Ist es eine Laune der Natur, die dem Menschen zusätzlich zu den Eigenschaften, die für seine Existenz notwendig sind, auch noch den Spieltrieb verleiht?

Hier setzt Schiller an und verleiht der Schönheit als ästhetischem Schein ihren eigenen Zweck (19. Brief):

„….nicht insofern sie beim Denken hilft (welches einen offenbaren Widerspruch enthält), bloß insofern sie den Denkkräften Freiheit verschafft, ihren eigenen Gesetzen gemäß sich zu äußern, kann die Schönheit ein Mittel werden, den Menschen von der Materie zur Form, von Empfindungen zu Gesetzen, von einem beschränkten zu einem absoluten Dasein zu führen.”

Was Schiller hier mit dem Adverb „bloß“ qualifiziert „bloß insofern sie den Denkkräften Freiheit verschafft”, ist nach seiner Auffassung die einzige Möglichkeit für den Menschen, seiner Bestimmung als freier Mensch näherzukommen, nicht nur Individualität zu sein, sondern Person zu werden, von den Schranken zur Unendlichkeit zu gehen, die innere Freiheit zu erlangen, welche Macht des Willens ist. Im 20. Brief erklärt er dies näher.

„[Die Freiheit] nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist und seine beiden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, solang er unvollständig und einer von beiden Trieben ausgeschlossen ist, und muß durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgibt, wieder hergestellt werden können.”

Doch der sinnliche Trieb kommt früher als der vernünftige zur Wirkung. Weil aber der Mensch nicht unmittelbar vom Empfinden zum Denken übergehen kann, muss die Macht der Empfindung vernichtet werden, bevor die Vernunft eine Macht sein kann. Dabei darf der Mensch die Realität nicht verlieren, und deshalb darf nicht die Empfindung selbst, sondern nur die Macht der Empfindung vernichtet werden. Weiter heißt es im 20. Brief:

„Die Aufgabe ist also, die Determination des Zustandes zugleich zu vernichten und beizubehalten, welches nur auf die einzige Art möglich ist, daß man ihr eine andere entgegensetzt. Die Schalen einer Waage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten.

Das Gemüt geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf beide Art tätig ist, verdient vorzugsweise eine freie Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.”


7.
Der ästhetische Zustand und die Freiheit (1)



Was Schiller mit dem ästhetischen Zustand als dem Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit meint, führt er im 21. Brief weiter aus. Der ästhetische Zustand tritt bei der Begegnung mit dem Schönen (bzw. dem schönen Schein) ein und führt dazu, dass das Gemüt keine Realität ausschließt. Es ist dann nicht ausschließend bestimmt ist und hat die unendliche Fülle in sich. Jetzt ist ihm sein ganzes Vermögen gegeben, und das Gemüt kann sich nun, wenn es denkt, aus innerer unendlicher Kraft selbst beschränken. Es ist dem Menschen „die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben”.

Dies ist ein ausgesprochen wichtiger Gedanke bei Schiller. Er verknüpft den „schönen Schein” mit der Freiheit, und zwar mit Hilfe eines notwendigen Übergangs durch eine „mittlere Stimmung” , welche von der ästhetischen Verfassung geschaffen wird und die auch nur sie schaffen kann. In dieser „mittleren Stimmung” allein ist es dem Menschen möglich, diese seine Bestimmung zu erlangen: ein freier Mensch zu werden. Diese Bestimmung ist in seiner Natur zwar angelegt, kann aber aufgrund der Nötigung der Natur beim Empfinden sowie der Vernunft beim Denken erst durch diese „mittlere”, „freie”, „ästhetische” Stimmung realisiert werden.

Auf welche Weise der Mensch mit dem ästhetischen Zustand, in den ihn der Spieltrieb führt, diese Freiheit allmählich verwirklicht, beschreibt Schiller ausführlich im 27. und letzten Brief der Sammlung. Von der Freude an der üppigen Kraft, die auch dem Tier gegeben ist, zur Freude am Stoff für ein mögliches Bilden, dann in der nächsten Stufe zum Wunsch, selbst zu gefallen, indem er sich schmückt, verwandelt er sich schließlich selbst:

„Eine schönere Notwendigkeit kettet jetzt die Geschlechter zusammen, und der Herzen Anteil hilft das Bündnis bewahren, das die Begierde nur launisch und wandelbar knüpft. …. Das Bedürfnis, zu gefallen, unterwirft den Mächtigen des Geschmackes zartem Gericht; die Lust kann er rauben, aber die Liebe muß eine Gabe sein.”

„Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüber stehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.”

Schiller beruft sich in seinem ersten Brief auf Kant mit den Worten „ daß es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen werden”. Soweit dies Kants „interesselosem Wohlgefallen“ am Kunstwerk entspricht, ist es ein Grundsatz, der das Kunstwerk zunächst sich selbst zurückgibt, aus der Tyrannis der Dienstbarkeit für die Wahrheit befreit. Der Künstler tut dabei zweierlei: er gibt seiner Gestalt Selbständigkeit nach seinen eigenen Gesetzen, das heißt, er trennt sie von der Wirklichkeit und macht sie zum schönen Schein, und er macht die Wirklichkeit von dem Schein frei, den er als Mensch, das heißt als vorstellendes Subjekt, der Wirklichkeit ursprünglich zugeschrieben hat. Schiller besteht darauf, dass das Urteil ein ästhetisches sein muss, selbst in dem Fall, wo der Gegenstand „an dem wir den schönen Schein finden“ (26. Brief), Realität hat. Weiter heißt es im 26. Brief:

„Eine lebende weibliche Schönheit wird uns freilich eben so gut und noch ein wenig besser als eine eben so schöne bloß gemalte gefallen; aber, insoweit sie uns besser gefällt als die letztere, gefällt sie nicht mehr als selbständiger Schein, gefällt sie nicht mehr dem reinen ästhetischen Gefühl: diesem darf auch das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als Idee gefallen; aber freilich erfordert es noch einen ungleich höhern Grad der schönen Kultur, in dem Lebendigen selbst nur den reinen Schein zu empfinden, als das Leben an dem Schein zu entbehren.”

Dies kann die einzige Bedeutung von „interesselos“ sein, insofern, als die höhere Kultur das Begehren nach dem Gegenstand überwindet.

Nur da, wo diese höhere, die ästhetische Kultur auftritt, kann sich der Mensch als freier entwickeln und zum moralischen werden. Auf diese Weise verknüpft Schiller die Ästhetik mit der Ethik und geht so über Kant hinaus. Er geht damit auch weit über alle anderen Auffassungen hinaus, die im Kunstwerk die Hülle für die Wahrheit (die Idee) sehen, es damit selbst moralisch machen wollen und ihm so eine didaktische (aufklärerische) Aufgabe zuweisen. In den nachfolgenden Stellen aus dem 22. Brief bespricht Schiller diesen Gedanken ausführlich:

„Das Gemüt des Zuschauers und Zuhörers muß völlig frei und unverletzt bleiben, es muß aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen wie aus den Händen des Schöpfers gehn. […]  Eine schöne Kunst der Leidenschaft gibt es; aber eine schöne leidenschaftliche Kunst ist ein Widerspruch, denn der unausbleibliche Effekt des Schönen ist Freiheit von Leidenschaften. Nicht weniger widersprechend ist der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben.”

Die ästhetische Wirkung besteht darin, dass wir empfänglich für das Sinnliche bleiben, während wir gedanklich tätig sind; wir sind „in einem solchen Augenblick unsrer leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister, und mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden”.

Mit diesem Ansatz formuliert Schiller ein eindeutiges Kriterium bezüglich der Qualität eines Kunstwerks:

„Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk entlassen soll, und es gibt keinen sicherern Probierstein der wahren ästhetischen Güte.”

Dies ist eine zentrale Stelle in seiner Schrift. Wohl räumt Schiller ein, dass „ in der Wirklichkeit keine rein ästhetische Wirkung anzutreffen ist (denn der Mensch kann nie aus der Abhängigkeit der Kräfte treten)”, doch ist damit ein Gradmesser gegeben: „Je allgemeiner nun die Stimmung und je weniger eingeschränkt die Richtung ist, welche unserm Gemüt durch eine bestimmte Gattung der Künste und durch ein bestimmtes Produkt aus derselben gegeben wird, desto edler ist jene Gattung, und desto vortrefflicher ein solches Produkt.”

Gerade um diese Richtung ist es Schiller zu tun; immer wieder betont er, dass er den Weg aufzeigen will, der die Entwicklung voranbringt. Der Weg, den der Künstler bei der Bearbeitung des Stoffs gehen muss, worin sein eigentliches Kunstgeheimnis besteht, führt ihn dazu, „daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.”

Bereits im 15. Brief gibt Schiller mit der Juno Ludovisi ein Beispiel dafür, was er mit der „Vertilgung des Stoffes” meint:

„Es ist weder Anmut, noch ist es Würde, was auf dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludovisi zu uns spricht; es ist keines von beiden, weil es beides zugleich ist. Indem der weibliche Gott unsre Anbetung heischt, entzündet das gottgleiche Weib unsre Liebe; aber, indem wir uns der himmlischen Holdseligkeit aufgelöst hingeben, schreckt die himmlische Selbstgenügsamkeit uns zurück. In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung, und als wenn sie jenseits des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand; da ist keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit einbrechen könnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat.”


8.
Die Einzelerscheinung mit dem Charakter des Allgemeinen



„In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung” sagt Schiller, und fügt hinzu „als wenn sie jenseits des Raumes wäre”. Die eigentliche Gestalt, die erreicht wird, wenn der Stoff durch die Form vertilgt wird, ist nicht mehr die, die unmittelbar stofflich war. Zwar ist sie auch diesseits des Raumes (stofflich), oder besser, in dem uns vertrauten Raum der Sinnesobjekte, denn sonst könnten wir sie nicht mit den Sinnen wahrnehmen, aber sie ist es auf eine besondere Weise, denn sie versetzt uns aus dem Raum und der Zeit hinaus.

Wenn Schiller von Form und Gestalt spricht, so unternimmt er ähnlich wie beim Begriffspaar Idee und Ideal keine reine Trennung in der Verwendung der beiden Begriffe, es sind aber tendenzielle Unterscheidungen auszumachen.

Die Form hält eine materielle Erscheinung innerlich zusammen, ist gewissermaßen ihre ideelle (nichtsinnliche) Daseinsbedingung oder Grund; die Gestalt ist die ideelle Form im Verbund mit der materiellen Substanz und erscheint als das, was eine bestimmte materielle Erscheinung – den Stoff –  von einer anderen unterscheidbar macht, indem sie sie äußerlich (sichtbar) zusammenhält. Wir nehmen die Gestalt mit ihrer Körperhaftigkeit war und mit bestimmten Eigenschaften; sie teilt sich uns als Einzelschöpfung mit, womit sich sich vom bloßen Stoff emanzipiert.

Die Form erscheint also gemeinsam mit dem Stoff als Gestalt, und sie kann auch nur in der Gestalt ihre stoffliche Erscheinung finden. Schiller benutzt den Begriff „Gestalt“ jedoch zuweilen auch als Synonym für „Form“. Wichtig ist in erster Linie, dass man sich beide nicht einfach als eine Art von Hohlkörper vorstellt, in welche ein Schöpfer den Stoff hineingießt, damit dieser eine Form bzw. Gestalt annimmt, sondern dass Form und Gestalt selbst schöpferische, erzeugende  Kräfte sind. Dabei gehört die Form mehr zu Idee, die Gestalt mehr zum Ideal.

Im vollkommenen Kunstwerk, wie es Schiller mit der Juno Ludovisi beschreibt,  entzündet die Gestalt unsere Liebe, während die Form uns zurückschreckt. Das vollkommene Kunstwerk erzeugt auf diese Weise in uns eine Dialektik des Zustandes (nicht des Gedankens): Wir erkennen in ihm die Form, die uns über die Beschränktheit unserer Existenz ins Zeitlose hinausführt und Ehrfurcht in uns weckt – und bleiben doch mit seiner Gestalt unserer eigenen Existenz verbunden, das heißt, unsere Existenz erhält Wert. In dieser Spannung frei gehalten fühlen wir uns als ganzer Mensch.

Der Künstler erzeugt zwar diesen Zustand durch sich selbst, also „subjektiv“, und er erzeugt ihn auf eine ganz bestimmte Weise, nach seinen eigenen Vorstellungen. Dennoch verleiht er durch seine Bearbeitung des Stoffes der Einzelerscheinung den Charakter des Allgemeinen, welchen sie vorher nicht hatte. Denn der Schein der Wirklichkeit, nämlich der ästhetische Schein, den das Kunstwerk besitzt, befriedigt gerade dadurch, dass der Künstler durch die Form den Stoff aus den Fesseln seiner zufälligen Erscheinung in der Wirklichkeit befreit. Diese freie Gestalt besitzt den Charakter des Allgemeinen deshalb, weil sie nicht Ausdruck von Willkürlichkeit ist, sondern von höchster innerer Notwendigkeit, nicht Gesetzlosigkeit, sondern Harmonie von Gesetzen. (18. Brief)

Das Allgemeine ist somit nicht das, was aus der Menge der Erscheinungen als statistischer Durchschnitt errechnet wird, sondern ein vom Subjekt auf eine besondere Weise geschaffenes Objektives, welches sich im höheren Begriff der Notwendigkeit verwirklicht – ein Begriff, der beides, den materiellen Zwang der Naturgesetze und den geistigen Zwang der Sittengesetze umfasst, besser: gleichermaßen berücksichtigt und damit auflöst (15. Brief). Das Allgemeine ist in dem Maße objektiv, wie es auch die Bedingung des Objektiven erfüllt, Gesetz (Form) zu sein; es führt so den Menschen über sich hinaus. „Wo also der Formtrieb die Herrschaft führt und das reine Objekt in uns handelt, da ist die höchste Erweiterung des Seins [...]“. (12. Brief)

Das Objektive reißt den Menschen aus der Zeit, der Mensch ist also objektiv gesehen ein zeitloses Wesen, aber dieses Objektive existiert nur in der Idee; diese wiederum muss, um wirksam zu werden, in die Zeitlichkeit hinaustreten bzw. (von menschlichen Gesichtspunkt aus) hineintreten, Gestalt annehmen, und dann ist sie schon nicht mehr die reine Idee. Schiller kommt es darauf an, wie er zu Beginn seiner Abhandlung, im 4. Brief, ausführt, „wie der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen” kann, ohne dass der reine Mensch den empirischen unterdrückt, nämlich dadurch „daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt.”


9.
Der Spieltrieb und sein Gegenstand: die Schaffung einer lebenden Gestalt im Kunstwerk



Diese logische Unmöglichkeit, der Endlichkeit (dem Stoff, dem Zufälligen, Subjektiven) die Unendlichkeit (die Form, das Gesetz, das Objektive) einzuprägen, ohne das Reich der Erscheinung zu entvölkern, wie schon aus dem 4. Brief zitiert wurde, mit anderen Worten, ohne das Subjektive zu vernichten, ist eine innere Notwendigkeit des Menschen, die er nur im Spiel verwirklichen kann. Der Spieltrieb bringt die lebende Gestalt hervor, die Schiller im 15. Brief folgendermaßen  beschreibt:

„Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und, mit einem Worte, dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.

Durch diese Erklärung, wenn es eine wäre, wird die Schönheit weder auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen. Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und bleibt, kann darum nichtsdestoweniger lebende Gestalt durch den Architekt und Bildhauer werden; ein Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, daß seine Gestalt Leben und sein Leben Gestalt sei. Solange wir über seine Gestalt bloß denken, ist sie leblos, bloße Abstraktion; solange wir sein Leben bloß fühlen, ist es gestaltlos, bloße Impression. Nur, indem seine Form in unsrer Empfindung lebt und sein Leben in unserm Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt, und dies wird überall der Fall sein, wo wir ihn als schön beurteilen.”

Zum Spieltrieb heißt es weiter:

„Diesen Namen rechtfertigt der Sprachgebrauch vollkommen, der alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt. Da sich das Gemüt bei Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und Bedürfnis befindet, so ist es eben darum, weil es sich zwischen beiden teilt, dem Zwange sowohl des einen als des andern entzogen.”

Schönheit tritt bei Schiller als lebende Gestalt auf; die lebende Gestalt ist Gegenstand des Spieltriebs. Der Spieltrieb wiederum orientiert sich an Regeln – er ist weder subjektiv noch objektiv zufällig -, aber an solchen Regeln, die nicht nötigen, die der Spielende aus eigenem Entschluss aufstellt.

Den „Stoff durch die Form vertilgen“ , wie es in der bereits zitierten Stelle aus dem 22. Brief heißt, bedeutet für den Künstler also nicht, den Stoff zum Verschwinden zu bringen, aufzulösen, zu reduzieren, um die reine Idee in ihrer Gesetzmäßigkeit zu denken, sondern den Stoff so umzuformen, dass er lebende Gestalt wird, weil er als Stoff - wenn auch nur scheinbar – dann der Zeitlosigkeit zurückgegeben, befreit wird, wenn seine Form im Betrachter lebt und sein Leben sich im Betrachter formt. Dadurch wird der Stoff schön.

Das Verlangen nach der Schönheit kann nur im schönen Schein befriedigt werden, dieser soll idealerweise kein Verlangen nach dem Objekt des schönen Scheins selbst auslösen, wie Schiller am Beispiel der Juno Ludovisi ausführt. Es gibt aber genügend Beispiele in der Literatur dafür, wie ein Schöpfer von dem lebendigem Schein seiner eigenen Schöpfung so hingerissen ist, dass er sich wünscht, diese träte in die Wirklichkeit ein. Das berühmteste Beispiel ist Pygmalion aus den Metamorphosen Ovids. Der Bildhauer Pygmalion, „der „aus Scheu vor den Fehlern des weiblichen Geschlechtes ehelos ein einsames Leben [lebte] [...], verliebte sich in sein eigenes Werk. [...] Es ist ganz die Gestalt einer Jungfrau, sie scheint zu leben und sich bewegen zu wollen“, heißt es in den von H. W. Stoll herausgegebenen Sagen des klassischen Altertums.[4]  

Pygamalion geht mir ihr um, „als wenn sie dies fühlte“, macht ihr Geschenke, legt ein weiches Polster unter ihren Nacken. Schließlich bittet er Aphrodite sie ihm zum Weib zu geben, interessanterweise scheut er sich jedoch vor genau dieser Formulierung und bittet um ein Weib „ähnlich der elphenbeinernen Jungfrau“. Doch Aphrodite gewährt ihm seine unausgesprochene Bitte und erweckt ebendiese Statue zum Leben.

Wir wissen allerdings, was geschieht, wenn die lebende Gestalt zur wirklichen Gestalt wird: sie verliert ihren allgemeinen Charakter, wird subjektiv und damit zur zeitlichen, unterwirft sich der menschlichen Sterblichkeit.

Was heißt es denn, wenn ein Marmorblock eine lebende Gestalt besitzt? Es heißt ja nicht anderes, als dass im Betrachter Gefühl (Subjektives) und Verstand (Objektives) sich verbinden können, „indem seine [des Kunstwerks] Form in unsrer Empfindung lebt und sein Leben in unserm Verstande sich formt”. Der Betrachter erlebt im Anblick der Juno Ludovisi den Zustand der „höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung”, der Objektivität und der Subjektivität.

 

Im Allgemeinen, Objektiven, ist Zeitlosigkeit, aber es gibt nichts Individuelles mehr. Im Subjektiven gibt es nichts Zeitloses mehr, es ist sterblich.

Der schöne Schein der lebenden Gestalt ist die einzige Möglichkeit, wie das Subjektive sich mit dem Objektiven, dem Allgemeinen, verbinden kann, ohne sich selbst zu vernichten.


10.
Notwendigkeit und freie Bestimmung



Auf die schillersche Verknüpfung von Ästhetik und Moral wurde bereits im Kapitel über den ästhetischen Zustand eingegangen. Dieser Gedanke soll hier wieder aufgenommen und erweitert werden.

Wenn der Schöne Schein es erlaubt, dass Subjekt und Objekt zusammenkommen, wie kann dies für die moralische Selbstbestimmung und die Notwendigkeit, die dem Allgemeinen entspricht, geschehen?

Aristoteles hat das Prinzip des Allgemeinen im 9. Kapitel seiner Poetik für die Dichtkunst gefordert, nämlich dieses Allgemeine, das „καθόλου (katholou)“ als ein „Wie es sein könnte“ zu formulieren, und er hat es in den Gegensatz zur Geschichtsschreibung gesetzt (Geschichtsschreibung als Prosa vor der Erfindung des Romans), die auf das Einzelne geht, wie es vorgefunden wird als das, was sich geschichtlich ergeben hat, als Einzelfall, als das, „Was Alkibiades tat oder erlebte“. Das Allgemeine der Dichtkunst ist bei Aristoteles jedoch nicht nur ein „Wie es sein könnte“, nämlich nach dem Wahrscheinlichen (τὸ εἰκός, eikos), sondern auch ein „Wie es sein sollte“, nach dem Notwendigen (ἀναγκαῖον, anagkaion): „Es ist aber etwas Allgemeines, dass es sich für einen bestimmten Menschen ergibt, nach der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit auf eine bestimmte Weise zu sprechen oder zu handeln, worauf die Dichtung abzielt, wobei sie Einzelnamen beifügt.“[5] Das Allgemeine ist bei Aristoteles höher gestellt als der Einzelfall der geschichtlichen Erzählung, und der Einzelname dient der Dichtkunst lediglich zur Veranschaulichung des Allgemeinen, das somit überhaupt erst darstellbar wird.

Auch Schiller spricht von der Aufgabe des Künstlers als einem Streben, „auf dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen” (9. Brief). Doch hat Schillers Allgemeine in der Kunst einen Gehalt, den Aristoteles nicht kennt, weil dieser nichts von einem ästhetischen Schein weiß, der vom Künstler im Spiel erzeugt wird. Deswegen ist Aristoteles’ Notwendigkeit die Göttin des Schicksals Ananke, die die geistigen Gesetze von außen in die schöpferische Tätigkeit einfließen lässt. Ihre objektiven Gesetze müssen vom Menschen erkannt und anerkannt werden. Dadurch bringt Aristoteles einen moralischen oder Lehr-Charakter in die Dichtkunst hinein, mit welchem er, um mit Schiller zu sprechen, die Grenzen des Dichterrechtes überschreitet, weil der Poet dadurch in die Realität eingreift.

Schillers moralische Notwendigkeit ist eine andere. Wenn der Mensch die Schönheit als ästhetischen Schein erlebt, dann geht er durch einen Moment der Bestimmungslosigkeit, Zeitlosigkeit. In diesem Moment wird er frei, seine weitere Entwicklung selbst, aus sich heraus zu bestimmen. Er kann dann sittlich handeln. Vor seiner Geburt als ästhetischer handelt der Mensch sittlich nur nach äußerlichen Gesetzen (Ananke), aber der Begriff „sittlich“ ist hier im Grunde genommen noch nicht angebracht. Der eigentlich sittliche oder moralische Mensch entsteht erst, wenn der ästhetische Mensch sich entwickelt. Der ästhetische Mensch ist ein tätiger, er ist tätig im Spiel. Daher ist der moralische Mensch an den tätigen, an den geschichtlichen gebunden, aber der geschichtliche Mensch tritt im sittlichen um soviel zurück, um wieviel der ästhetische den sittlichen schon gestaltet hat, und um soviel tritt er auch aus der Zeitlichkeit ins Überzeitliche. Explizit führt Schiller diesen Gedanken nicht aus, aber er ergibt sich aus dem Zusammenhang.

Schiller ist sich darüber im Klaren, wie schwierig der Gedanke der Bestimmungslosigkeit im ästhetischen Zustand zu fassen ist, auf den sich seine Theorie des sittlichen Menschen gründet. In einer Fußnote zum 21. Brief versucht er, deutlicher zu werden:

„Zwar läßt die Schnelligkeit, mit welcher gewisse Charaktere von Empfindungen zu Gedanken und zu Entschließungen übergehen, die ästhetische Stimmung, welche sie in dieser Zeit notwendig durchlaufen müssen, kaum oder gar nicht bemerkbar werden. Solche Gemüter können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lang ertragen und dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden. Dahingegen breitet sich bei andern, welche ihren Genuß mehr in das Gefühl des ganzen Vermögens, als einer einzelnen Handlung desselben setzen, der ästhetische Zustand in eine weit größere Fläche aus. So sehr die Ersten sich vor der Leerheit fürchten, so wenig können die Letzten Beschränkung ertragen. Ich brauche kaum zu erinnern, daß die Ersten fürs Detail und für subalterne Geschäfte, die Letzten, vorausgesetzt daß sie mit diesem Vermögen zugleich Realität vereinigen, fürs Ganze und zu großen Rollen geboren sind.”

Die Schaffung des ästhetischen Zustands durch den Spieltrieb – das ist Schillers Definition von Kunst. Damit weist er der Kunst eine Aufgabe zu, die zur Entwicklung des Menschen als einer Entwicklung zum sittlichen Menschen unabdingbar ist, und die auch nur sie erfüllen kann.

Auf welche Weise dieser ästhetische Zustand durch den Spieltrieb hervorgerufen werden kann, dafür gibt Schiller keine Anleitung. Er sagt aber, dass der Spieltrieb Regeln folgt, die allerdings eine besondere Art von Notwendigkeit bilden, nämlich „nicht Gesetzlosigkeit, sondern Harmonie von Gesetzen, nicht Willkürlichkeit, sondern höchste innere Notwendigkeit” (18. Brief)

Die „innere“, „höchste“ Notwendigkeit widerspricht nicht von vorneherein derjenigen des Aristoteles. Mit ihr legt allerdings der Künstler Rechenschaft gegenüber sich selbst ab und nicht gegenüber einem wie auch immer definierten allgemeinem Notwendigen, das an ihn Ansprüche stellt. Er ist ja in der Lage, an sich selbst  zu überprüfen, ob er die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, so einsetzt, dass er den „ästhetischen Zustand“ erreicht. Daher ist die Schönheit ein Gegenstand der Erfahrung, und zwar sowohl seiner eigenen als auch der eines anderen Kunstgenießenden. Schönheit ist nicht fassbar durch verbindliche Vorgaben, die die Schönheit bestimmen wollen, bevor sie auftritt. Die „höchste innere Notwendigkeit“ erzeugt eine jeweils andere, neue Harmonie, weil in der Kunst nicht ein Fall für alle gilt.

Deshalb sagt Schiller

„Die Erfahrung kann uns beantworten, ob eine Schönheit ist, und wir werden es wissen, sobald sie uns belehrt hat, ob eine Menschheit ist. Wie aber eine Schönheit sein kann, und wie eine Menschheit möglich ist, kann uns weder Vernunft noch Erfahrung lehren.” (15. Brief)


11.
Der ästhetische Zustand und die Freiheit (2); die Liebe



Hier soll noch einmal der Faden aufgenommen werden zu Schillers zentralem Gedanken des freien Menschen, der erst im ästhetischen Zustand sich zu verwirklichen beginnt, „zu sein, was er sein soll“, wie es in der bereits weiter oben zitierten Stelle heißt. Hier das Zitat etwas ausführlicher:

„Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Wert eines Menschen oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist.” (21. Brief)

Mit anderen Worten, Schillers freier Mensch, der sich aus dem ästhetischen entwickelt, ist kein gesetzloser Mensch, vielmehr ist ihm die Freiheit zurückgegeben, zu sein, was er sein soll. Dies ist aber ein Paradox. Wenn der Mensch als Subjekt ein freier ist, wieso soll er dann das anstreben, was er sein soll, also als objektiver? Ist dies nicht vielmehr eine scheinbare Freiheit, ein sophistisches schillersches Wortspiel?

Kant ist diesem Problem aus dem Weg gegangen, indem er den ästhetischen Menschen vom sittlichen getrennt hat. Der ästhetische ist frei, aber der sittliche gehorcht der Pflicht. Für Schiller ist diese Zweiteilung nicht möglich. Zwar beruft er sich zunächst auf Kant, aber er geht über Kant hinaus. Für Schiller gibt es keinen kategorischen Imperativ, der dem Menschen Pflichtgesetze auferlegt. Dies ist mit seiner Vorstellung von der Würde des Menschen nicht vereinbar. Dazu eine weitere Stelle aus dem 21. Brief:

„Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt. Denn, ob sie uns gleich die Menschheit bloß möglich macht und es im Übrigen unserm freien Willen anheimstellt, inwieweit wir sie wirklich machen wollen, so hat sie dieses ja mit unsrer ursprünglichen Schöpferin, der Natur, gemein, die uns gleichfalls nichts weiter als das Vermögen zur Menschheit erteilte, den Gebrauch desselben aber auf unsere eigene Willensbestimmung ankommen läßt.”

Freiheit ist ohne den freien Willen nicht denkbar. Nur der freie Wille der Person, des Subjekts, verwirklicht das Vermögen der Menschheit. Er kann aber auch nur da eingreifen, wo beide Triebe des Menschen, der Stofftrieb und der Formtrieb, sich die Waage halten. Im 4. Brief findet man folgende Erläuterung:

„Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nötigung greifen. Soll er also dieses Vermögen der Wahl beibehalten und nichtsdestoweniger ein zuverlässiges Glied in der Kausalverknüpfung der Kräfte sein, so kann dies nur dadurch bewerkstelligt werden, daß die Wirkungen jener beiden Triebfedern im Reich der Erscheinungen vollkommen gleich ausfallen und, bei aller Verschiedenheit in der Form, die Materie seines Wollens dieselbe bleibt, daß also seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstimmend genug sind, um zu einer universellen Gesetzgebung zu taugen.”

Zwar heißt für diesen schillerschen Menschen Freiheit, sich für das zu entscheiden, was er tun soll. Im Resultat unterscheidet er sich zunächst nicht vom sittlichen Menschen Kants, der der Pflicht gehorcht. So räumt Schiller ein, dass es für die „einseitige moralische Schätzung“ ausreichend wäre, wenn das Gesetz ohne Bedingung gilt, sich gegen die freie Wahl durchsetzt. Er besteht aber darauf, dass in der „vollen anthropologischen Schätzung, wo mit der Form auch der Inhalt zählt und die lebendige Empfindung zugleich eine Stimme hat” (4. Brief), diese freie Wahl umso mehr gilt. Der schillersche Mensch gehorcht nicht der Pflicht, sondern entscheidet sich aus der lebendigen Empfindung heraus: aus Liebe, wo ihn weder Natur (Stoff) noch Vernunft (Form) einseitig nötigen. Auch dieses Argument führt Schiller aus (14. Brief):

„Wenn wir jemand mit Leidenschaft umfassen, der unsrer Verachtung würdig ist, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Natur. Wenn wir gegen einen andern feindlich gesinnt sind, der uns Achtung abnötigt, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Vernunft. Sobald er aber zugleich unsre Neigung interessiert und unsre Achtung sich erworben, so verschwindet sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der Vernunft, und wir fangen an, ihn zu lieben, d. h., zugleich mit unsrer Neigung und mit unsrer Achtung zu spielen.”

Freiheit äußert sich in Liebe, und Liebe kann nur in Freiheit entstehen, wenn der Mensch spielt. Schillers Spieltrieb ist eine Erweiterung des Menschen.


12.
Vom Individuum zur Person:
Der ästhetische Mensch als Repräsentant der Gattung



Freiheit als Abwesenheit von Zwang ist allein im ästhetischen Zustand gegeben, wenn Stofftrieb und Formtrieb gleich stark wirken und damit einander aufheben. Im ästhetischen Zustand erzeugt der Mensch das Kunstwerk als einen ästhetischen Schein. Die Umbildung der Wirklichkeit zum Kunstwerk muss immer allgemeiner werden, sie muss zuletzt den ganzen Staat erfassen, um die subjektive Menschheit zur objektiven zur veredeln, ohne den subjektiven Menschen zu missachten (4. Brief):

„Ist der innere Mensch mit sich einig, so wird er auch bei der höchsten Universalisierung seines Betragens seine Eigentümlichkeit retten, und der Staat wird bloß der Ausleger seines schönen Instinkts, die deutlichere Formel seiner innern Gesetzgebung sein. Setzt sich hingegen in dem Charakter eines Volks der subjektive Mensch dem objektiven noch so kontradiktorisch entgegen, daß nur die Unterdrückung des erstern dem letztern den Sieg verschaffen kann, so wird auch der Staat gegen den Bürger den strengen Ernst des Gesetzes annehmen und, um nicht ihr Opfer zu sein, eine so feindselige Individualität ohne Achtung darnieder treten müssen.”

Es geht hier um die Entwicklung des einzelnen Menschen zur einer solchen Individualität, welche in sich ein Bild der Gattung Mensch darstellt, aber eben ein Bild, welches auf jeweils individuelle Weise zustande kommt. Mit diesem Gedanken befasst Schiller sich im 6. Brief. Er führt aus, dass bei den Anfängen der Philosophie, beziehungsweise, wie er es nennt „Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte”, die menschliche Natur zwar bereits zerlegt war, indem die Vernunft trennte, diese Vernunft aber die getrennten Teile wieder mischte, und zwar „verschiedentlich” mischte. Das bedeutet, dass alle Teile in jeder Individualität vorhanden waren, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Daraus entstand die Götterwelt. In jedem individuellen Gott war demgemäß die ganze Menschheit vorhanden in einer ganz bestimmten Ausprägung. „Wie ganz anders bei uns Neuern!”, sagt Schiller. Wenn man heute zur Totalität der Gattung kommen wolle, so genüge es nicht, sich mit einem Individuum zu befassen, weil ein Individuum nicht eine bestimmte Mischung aller Teile, sondern überhaupt nur Bruchstücke des Ganzen aufweist, so dass „man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen.” Weiter heißt es im 6. Brief:

„Bei uns, möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemütskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.”

Schiller sieht wohl die Vorzüge, welche „das gegenwärtige Geschlecht, als Einheit betrachtet” gegenüber dem Menschengeschlecht der Vorwelt behaupten mag, er fordert aber auch, dass der Einzelne zum Repräsentanten seiner Zeit werden solle, so wie das der einzelne Grieche war. „Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen Mann mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit zu streiten?” fragt er. Und er gibt sich die Antwort gleich selbst: der einzelne Neuere darf dies nicht wagen: „Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen erteilten.” Der trennende Verstand ist aber Ergebnis der Kultur selbst, die den inneren Bund der menschlichen Natur zerriss. Die Kultur ist hier Ausdruck einer sich mit Notwendigkeit abspielenden Entwicklung, welche bedingt, dass die „erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften” erforderte und gleichzeitig „das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte”. Die verschiedenen Kräfte können nicht mehr in Harmonie zusammenkommen. In bewegender Weise beschreibt Schiller das traurige Ergebnis des verderblichen Streites des intuitiven und des spekulativen Verstandes, der „Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem innern Menschen anfingen”: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. [….] Der tote Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtnis leitet sicherer als Genie und Empfindung.”

Die Beschreibung der Ausbildung eines Staates, der seine Ordnung mechanisch macht, weil er nicht in der Lage ist, im einzelnen Menschen das zu würdigen, was über seine Nützlichkeit für das Ganze hinausgeht, dagegen sein Genie, welches allein einen Gattungscharakter geben könnte, unterdrückt, lässt sich ohne weiteres auf die modernen Diktaturen anwenden:

„Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet.”

„Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet. Genötigt, sich die Mannigfaltigkeit seiner Bürger durch Klassifizierung zu erleichtern und die Menschheit nie anders als durch Repräsentation aus der zweiten Hand zu empfangen, verliert der regierende Teil sie zuletzt ganz und gar auf den Augen, indem er sie mit einem bloßen Machwerk des Verstandes vermengt; und der regierte kann nicht anders als mit Kaltsinn die Gesetze empfangen, die an ihn selbst so wenig gerichtet sind. Endlich überdrüssig, ein Band zu unterhalten, das ihr von dem Staate so wenig erleichtert wird, fällt die positive Gesellschaft (wie schon längst das Schicksal der meisten europäischen Staaten ist) in einen moralischen Naturstand auseinander, wo die öffentliche Macht nur eine Partei mehr ist, gehaßt und hintergangen von dem, der sie nötig macht, und nur von dem, der sie entbehren kann, geachtet.”

Schiller strebt einen Zustand an, der noch nicht der Realität entspricht, der aber Realität sein könnte, weil es möglich ist, dass der innere Mensch mit sich einig ist: dann können das Persönliche (die „Eigentümlichkeit”) und das Gattungsmäßige  („Universalisierung seines Betragens”) sich verbinden, ohne sich zu beseitigen. Wir stehen hier vor dem Paradox, dass der Mensch das, was er als Mensch werden soll (im Sinne dessen, was ihm als Gattungswesen zukommt), dann erreichen kann, wenn er immer persönlicher wird (wie es sich für ihn als Individuum gehört), – nämlich dann, wenn er im ästhetischen Zustand die Freiheit, die Bestimmungslosigkeit findet.

Diese Schlussfolgerung zieht Schiller im letzten der siebenundzwanzig Briefe:

„Die Freuden der Sinne genießen wir bloß als Individuen, ohne daß die Gattung, die in uns wohnt, daran Anteil nähme; wir können also unsere sinnlichen Freuden nicht zu allgemeinen erweitern, weil wir unser Individuum nicht allgemein machen können. Die Freuden der Erkenntnis genießen wir bloß als Gattung, und indem wir jede Spur des Individuums sorgfältig aus unserm Urteil entfernen; wir können also unsere Vernunftfreuden nicht allgemein machen, weil wir die Spuren des Individuums aus dem Urteile anderer nicht so, wie aus dem unsrigen, ausschließen können. Das Schöne allein genießen wir als Individuum und als Gattung zugleich, d. h. als Repräsentanten der Gattung.”

Die Trennung in das „Eigentümliche” und das „Gattungsmäßige”, die Aristoteles begrifflich geklärt hat, bleibt zwar erhalten, im Genuss des Schönen sind die Begriffe aber nicht mehr auf verschiedene Subjekte zu verteilen, sondern fallen in einem und demselben zusammen.

Man darf daraus weiter folgern: in gleicher Weise, wie der ästhetische Schein des Kunstwerks auf vielerlei Arten eine Harmonie von Gesetzen ausdrücken kann, so kann der ästhetische Mensch auf vielerlei Arten Repräsentant der Gattung sein. Anders ausgedrückt: weil der Mensch im ästhetischen Zustand auf vielerlei Weise Repräsentant der Gattung sein kann, sind auch seine Werke höchst unterschiedliche.


13.
Das Objektive, das Subjektive und ihre Begegnung im Kunstwerk



Schillers idealer Mensch ist kein Gegenentwurf zum real existierenden Menschen, und sein Begriff der Freiheit entwickelt sich nicht aus einer Kritik der logischen Mängel, die in der Struktur des Menschen angelegt sein mögen, soweit man diesen als von einem freien Geist oder einer Gottheit geschaffen annimmt (soweit man das nicht tut, sondern den Menschen als Ergebnis eines Naturprozesses ansieht, erübrigt sich diese Kritik ohnehin, denn wie sollte man kritisieren, was sich mit Notwendigkeit ergibt). Schiller kümmert sich nicht darum, nach Gründen zu suchen, wie es überhaupt möglich ist, dass im Menschen entgegengesetzte Triebe – Stoff- und Formtrieb – walten. Die Möglichkeit der Dinge zu begründen, bezeichnet er als Aufgabe des Metaphysikers: dieser, so kann man ableiten, müsste danach streben zu erklären, wie es möglich ist, dass der Mensch nicht als freier Mensch geboren wird, sondern mit der Anlage zum freien Menschen, warum er diese Anlage entwickeln soll, warum er diese Anlage nur in Tätigkeit entwickeln kann und schließlich, warum ihn diese Freiheit zum objektiven Menschen, zur Person macht.

Schiller selbst rechnet sich vielmehr zu den Transzendentalphilosophen, welche sich im Sinne Kants damit begnügen „die Kenntnisse festzusetzen, aus welchen die Möglichkeit der Erfahrung begriffen wird” (19. Brief).

Die gleichzeitige Existenz von Objekt und Subjekt, von Vollkommenheit und Unvollkommenheit, sowie die Freiheit, der freie Wille sind für ihn alle Gegenstände der Erfahrung. Somit ist seine Erkenntnis ist nicht spekulativ, sondern eine Erkenntnis der Erfahrung, aus der ihn der „transzendentale Weg eine Zeit lang [entfernt], [...] und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern” schreibt er im 10. Brief.

Untersucht man die Erfahrung, so erkennt man, dass für eine jegliche Erfahrung Stofftrieb und Formtrieb benötigt werden. So sagt Schiller (19. Brief) „Und da nun Erfahrung eben so wenig ohne jene Entgegensetzung im Gemüte als ohne die absolute Einheit desselben möglich wäre, so stellt er [der Transzendentalphilosoph] beide Begriffe mit vollkommener Befugnis als gleich notwendige Bedingungen der Erfahrung auf, ohne sich weiter um ihre Vereinbarkeit zu bekümmern.”

Damit aber, von der Erfahrung ausgehend, zeigt sich Schiller auf entschiedene Weise als Realist und als Fürsprecher des empirischen Menschen. Schillers empirischer Mensch benötigt kein Erziehungsprogramm, das ihn einer äußeren Vernunft unterwirft, um seine sinnlichen Triebe zu bändigen; die Vernunft ist in ihm selbst angelegt, sie gehört zu seiner Erfahrung – allerdings, das ist wahr, zunächst als äußeres Gesetz, dem er sich unterwirft. Damit er die Vernunft aber auch als Impuls für seine freie Entwicklung zum sittlichen Menschen erfahren kann, bedarf er des ästhetischen Zustands. Im vorhergehenden Zustand der Sinnlichkeit empfindet er die Vernunft als Fessel und unterliegt dem Irrtum

„die Begriffe von Recht und Unrecht als Statuten anzusehen, die durch einen Willen eingeführt wurden, nicht die an sich selbst und in alle Ewigkeit gültig sind”. (24. Brief)

Solange er den ästhetischen Zustand nicht erlebt, ist auch sein Gottesbegriff unangemessen, wie Schiller im selben Brief erläutert:

„Wie er in Erklärung einzelner Naturphänomene über die Natur hinausschreitet und außerhalb derselben sucht, was nur in ihrer innern Gesetzmäßigkeit kann gefunden werden, ebenso schreitet er in Erklärung des Sittlichen über die Vernunft hinaus und verscherzt seine Menschheit, indem er auf diesem Weg eine Gottheit sucht. Kein Wunder, wenn eine Religion, die mit Wegwerfung seiner Menschheit erkauft wurde, sich einer solchen Abstammung würdig zeigt, wenn er Gesetze, die nicht von Ewigkeit her banden, auch nicht für unbedingt und in alle Ewigkeit bindend hält. Er hat es nicht mit einem heiligen, bloß mit einem mächtigen Wesen zu tun. Der Geist seiner Gottesverehrung ist also Furcht, die ihn erniedrigt, nicht Ehrfurcht, die ihn in seiner eigenen Schätzung erhebt.”

Es gibt für ihn also ausgehend vom Standpunkt des Menschen eine Wirklichkeit (als Erfahrung), eine Wahrheit (als Idee) und einen ästhetischen Schein (als Spiel). Alle drei existieren, aber ein jedes existiert auf seine Weise. Die Wirklichkeit existiert für den Menschen subjektiv, weil sie in ihrer Stofflichkeit vom Subjekt erlitten wird, die Wahrheit existiert objektiv, weil der Vernunftbegriff aus der Zeitlichkeit fällt, und nur im ästhetischen Schein existiert das Subjekt, als ob es schon ein Objektives, Überzeitliches wäre, ohne sein Subjekt zu verlieren.

Wenn Schiller seinen Briefen programmatisch den Titel „Über die ästhetische Erziehung des Menschen” gibt, so kann damit nichts anders gemeint sein als eine Selbsterziehung des Menschen dahingehend, dass sich für ihn die Kluft zwischen Subjektivem und Objektivem im schönen Schein schließt. Er behandelt diese Aufgabe als unabdingbare für den weiteren Entwicklungsweg des Menschen, wenn der Mensch zum sittlichen werden will. Diese Argumentation nimmt in den Briefen den allergrößten Raum ein, und es ist sein wichtigstes Anliegen, seine Argumente nachvollziehbar und schlüssig zu machen, um ein grundsätzliches Verständnis für die Aufgabe des selbständigen schönen Scheins zu bewirken.


14.
Der ästhetische Staat als Reich des ästhetischen Scheins



Um Schiller zu verstehen, muss man seinem dialektischen Gedankengang folgen. Um ihm Recht geben zu können, muss man allerdings jene Grundprinzipien anerkennen, die Schiller aus seiner Erfahrung aufstellt (und deren Begründung er dem Metaphysiker überlässt), um mit ihnen über die Erfahrung hinaus zu gehen: dass der Mensch eine Entwicklung durchläuft, die er immer mehr aktiv gestaltet, dass er erst im Lauf dieser Entwicklung vollständig wird, und dass dieser vollständige Mensch der Mensch des freien Willens ist, der aus Neigung handelt, wo einst die Pflicht befahl.

Dieser Mensch des freien Willens wird zwar in der Realität nicht auftreten, sondern bleibt ideeller oder Vernunftbegriff, tritt aber im Spiel zutage „soweit der Geschmack regiert” (27. Brief). Der reale vollständige Mensch ist der ästhetische Mensch, der ästhetische Mensch ist gesellschaftlicher Mensch, sein ästhetischer Staat ist das Reich des ästhetischen Scheins, hier nur „wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte”. (27. Brief)

Schillers Staat des ästhetischen Scheins ist der Staat der Kultur als einer Gemeinschaft der Menschen, denen es nicht genügt, passiv unter den Gesetzen des sinnliches Triebes zu bleiben, die also nicht nur leben, um zu überleben, die aber auch nicht wirklich sittlich sein können, solange sie Vernunftgesetzen unterworfen bleiben. In Schillers ästhetischem Staat gibt es keinen vorgeblich gesunden Zwang zum vernunftgemäßen Handeln, keine revolutionäre Maxime, der sich das Individuum unterzuordnen hat, weil es das Ideal der Gleichheit auch dem Wesen nach realisiert haben möchte. Der ästhetische Staat verlangt mehr vom Menschen, er verlangt gleichermaßen die Anerkennung der empirischen Realität und der Vernunftwahrheit, nicht ihr Zusammenschnüren in einer Ideologie, die zu Lasten beider geht, sondern ihr Zusammenführen in einem neuen Reich, das nur dem Schein nach existiert – einem Schein, der Selbständigkeit beansprucht:

„Dem selbständigen Schein nachzustreben, erfordert mehr Abstraktionsvermögen, mehr Freiheit des Herzens, mehr Energie des Willens, als der Mensch nötig hat, um sich auf die Realität einzuschränken, und er muß diese schon hinter sich haben, wenn er bei jenem anlangen will. Wie übel würde er sich also raten, wenn er den Weg zum Ideale einschlagen wollte, um sich den Weg zur Wirklichkeit und Wahrheit zu ersparen!” (27. Brief)

Wie unendlich schwierig ist es, dem selbständigen Schein nicht nur gezwungenermaßen oder gnadenhalber Existenz einzuräumen – der Mensch ist ja doch ästhetisch veranlagt, und er wird ja doch seine künstlichen Produkte unter allen Umständen zu verwirklichen suchen – , sondern zu begreifen, dass der Mensch nur mithilfe dieses selbständigen Scheins seine Menschheit verwirklichen kann! Dieses führt Schiller aus:

„Von dem Schein, so wie er hier genommen wird, möchten wir also für die Wirklichkeit nicht viel zu besorgen haben; desto mehr dürfte aber von der Wirklichkeit für den Schein zu befürchten sein. An das Materielle gefesselt, läßt der Mensch diesen lange Zeit bloß seinen Zwecken dienen, ehe er ihm in der Kunst des Ideals eine eigene Persönlichkeit zugesteht. Zu dem letztern bedarf es einer totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise, ohne welche er auch nicht einmal auf dem Wege zum Ideal sich befinden würde. Wo wir also Spuren einer uninteressierten freien Schätzung des reinen Scheins entdecken, da können wir auf eine solche Umwälzung seiner Natur und den eigentlichen Anfang der Menschheit in ihm schließen.”

Wo diese Revolution der ganzen Empfindungsweise eintritt, da kann der Mensch sich veredeln, und die freie Schätzung des reinen Scheins ist deren Manifestation.



15.
Der schöne Schein des Kunstwerks und Kriterien seiner Beurteilung.
Ethik und Ästhetik




Wenn der schöne Schein den Menschen veredelt und damit die Kultur erst schafft, das heißt, den menschlichen Beziehungen zueinander ein bestimmtes Gepräge gibt, welches die Würde eines jeden einzelnen Menschen beachtet, so ist damit noch nichts darüber ausgesagt, auf welche spezifische Weise eine jede der Künste ihren Beitrag leistet. Allerdings nennt Schiller ein Kriterium, das allgemeine Gültigkeit hat: die „lebende Gestalt”, die er, wie oben ausgeführt, an einem Beispiel der Bildhauerkunst verdeutlicht, dem zu seiner Zeit berühmten antiken Bildnis der Juno Ludovisi.

In einer Interpretation seiner Beschreibung des Eindrucks, den der Anblick dieses Marmorkopfes hervorruft, kann man sagen, dass bei einer lebenden Gestalt der Schöpfer in sein Kunstwerk so eingegangen ist, dass dieses nun aus sich selbst heraus lebt – und zwar im Betrachter beziehungsweise im Schöpfer selbst. Es kann leben, weil von ihm aller Anschein von Künstlichkeit abgefallen ist, ohne dass es eine Naturschöpfung sein will. Es bildet die Natur nicht nach, sondern es übertrifft sie. Es erscheint dem Betrachter als „wirklichere” Wirklichkeit.

Wenn es dem Künstler nicht gelingt, seine künstliche Gestalt zur lebenden zu machen, so bleibt sie „gekünstelt”, huldigt der Form, das heißt, sie erhebt zwar einen Anspruch auf Leben, kann ihn aber nicht erfüllen. Das Kunstwerk bleibt in diesem Falle Ausdruck des Künstlers und wird nicht zum Ausdruck seiner selbst. An die Stelle der üblichen Frage an das Kunstwerk „Was wollte der Künstler damit sagen?” muss also die Frage treten „Wie lebt das Kunstwerk in mir?”. In eine wirklich freie Stimmung, auf die es Schiller ankommt, die er zum bereits erwähnten „Probierstein” der ästhetischen Qualität eines Kunstwerkes macht, kann dieses nur versetzen, wenn der Künstler als Person in seinem Werk aufgegangen ist, sozusagen sich selbst vertilgt hat.

Mir scheint, dass im richtigen Verständnis der Begriffe „künstlich” und „natürlich” ein Schlüssel zu Schillers Kunstverständnis liegt. Der schöpferische Akt des Künstlers erzeugt eine Kunstschöpfung, sie ist selbstverständlich künstlich, aber sie bleibt nicht künstlich, weil sie Leben schafft. Dieses Leben ist auf eine andere Art Natur, Physis, als die Natur, die die „Natur” schafft: es legt den Keim zum freien sittlichen Menschen.

Friedrich von Schiller hat mit der Verknüpfung vom „schönen Schein” (Ästhetik) und der Freiheit des sittlichen Handelns (Ethik) Grundlegendes für den Kunstbegriff formuliert. In einem Essay über „Die Kunst der Zukunft” mit dem Titel „Bild und Abbild“ >> entwickele ich diese Gedanken weiter und setze sie mit dem Bildbegriff in Beziehung. Dazu dienen mir die Gedanken des Empirikers (Künstlers) Evgenij Kozlov, denen ich die Auffassung des Theoretikers Walter Benjamins entgegenstelle.

Hannelore Fobo, 2009 / 2012

art.tomorrow@t-online.de                       www.e-e.eu/Bild-und-Abbild

nach oben



[1] „Wissen“ ist Präteritopräsens der infoeuropäischen Perfektform *woyda, ich habe gesehen. Siehe Eintrag in Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Präteritopräsens, (abgerufen 18. 1. 2015), ausführlich im Grimmschen Wörterbuch, Eintrag „Wissen, vb“

http://woerterbuchnetz.de/DWB/call_wbgui_py_from_form?sigle=DWB&mode=Volltextsuche&lemid=GW23974#XGW23974 (abgerufen 18. 1. 2015)

[2] Zuerst veröffenticht 1795 in Ausgabe 1, 2, 3 von „Die Horen“, Cottasche Verlagsbuchhandlung, Tübingen. Die hier benutzte Ausgabe ist Schiller, Briefe über ästhetische Erziehung, Aufbau-Verlag Berlin, 1946. Die kursiven Setzungen (nicht aber die Rechtschreibung) entsprechen der Publikation im Internet unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/3355/1

[3]Volker Harlan, Was ist Kunst?, Urachhaus, Stuttgart 1986, S. 18

[4] Heinrich Wilhelm Stoll. Die Sagen des classischen Alterthums: Erzählungen aus der alten Welt. In zwei Bänden, Leipzig, 1862. Bd. 1, S. 364-365. Elektronische Faksimile-Ausgabe unter http://books.google.ru/books?id=ddRCAAAAIAAJ&redir_esc=y

[5] Aristoteles, Poetik 1451b5. ἔστιν δὲ καθόλου μέν, τῷ ποίῳ τὰ ποῖα ἄττα συμβαίνει λέγειν ἢ πράττειν κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον, οὗ στοχάζεται ἡ ποίησις ὀνόματα ἐπιτιθεμένη·. https://el.wikisource.org/wiki/Περί_Ποιητικής

nach oben

Letzte Korrektur: 16. Juni 2019