Evgenij Kozlov - Евгений Козлов

Портрет Тимура Новикова с костяными руками / Portrait of Timur Novikov with bony arms / Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen

Öl, Gouache/Baumwolle, / масло, гуашь, холст, 103 x 94 cm , 1988


Eines der ausdrucksstärksten Portraits Evgenij Kozlovs befindet sich in der Sammlung des Staatlichen Russischen Museums, St. Petersburg. Es ist das "Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen" von 1988. Wenn man allerdings bei einem Portrait voraussetzt, dass die Ähnlichkeit mit der abgebildeten Person im Vordergrund steht, so muss man feststellen, dass das Wiedererkennen zwar gegeben ist. Der Eindruck, den die Person im Bild vermittelt, ist jedoch um ein Vielfaches intensiver, als die Begegnung mit einer realen Person es sein könnte.


Evgenij Kozlov Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen, Öl, Gouache/Baumwolle,  103 x 94 cm, 1988, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg

Evgenij Kozlov
Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen Öl, Gouache/Baumwolle,
103 x 94 cm, 1988
Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
Formal gesehen liegt dem Gemälde eine Fotografie >> zugrunde, die der Künstler 1984 oder 85, also drei Jahre früher, während einer Performance der "Neuen Künstler" aufgenommen hat: des "Ballettes der drei Unzertrennlichen" nach Charms. Auf dieser Fotografie befindet sich Timur Novikov in einer Dreiergruppe mit Ulyana Ceytlina und Georgy Guryanov,. Ins Gemälde übernommen wurde der beim Fotografieren festgelegte Ausschnitt der Figur. Dieser beinhaltet den Kopf mit dem gesamten Oberkörper, an dem der Betrachter den angewinkelten, vom seinem Standpunkt aus rechten Arm sowie den Ansatz des linken Armes sieht.

Künstlerisch gesehen ist die Umgestaltung der Figur von der Fotografie zum Gemälde derart vollkommen, dass man schwerlich behaupten kann, im letzteren handele es sich um den Timur Novikov der Fotografie. Andererseits hätte es zweifellos ohne die besondere Ausstrahlung des Fotoportraits auch dieses Gemälde nicht gegeben.

Bereits 1986 verwendete Evgenij Kozlov besagte Fotografie für ein Portrait Timur Novikovs >>, das sich in einer Reihe mit Portraits in Mischtechnik auf Papier von Georgij Gurianov und Igor Verichev befindet. Bei dem Gemälde von 1988 handelt es sich im Wesentlichen jedoch nicht um eine Weiterentwicklung des früheren Portraits. Von der Grafik übernommen wurden lediglich einige Attribute. Es sind die elegante enganliegende Bekleidung - die Spenzerjacke mit Hemdbrust (letztere geht im Gemälde unmittelbar in den hautfarbenen Körper über), und das Buch, welches von der Hand an den Körper gehalten wird. Der Aufbau des Bildes und die Gestaltung der Figur, insbesondere des Gesichts, sind jedoch ungleich komplexer.

Wir sehen ein Gemälde, das Züge des typischen Bildaufbaus der Renaissance hat. Den gesamten Vordergrund nimmt die Figur ein. Sie befindet sich in einem lichtdurchfluteten Raum. Unmittelbar hinter ihr sehen wir einen Torbogen, der zu einer Art Gartenpavillon mit offenen Verstrebungen gehört; diese sind zu einem unregelmäßigen Gitter angeordnet. Der Torbogen gibt den Blick frei auf eine Landschaft. Der Pavillon befindet sich wohl auf einer Anhöhe, denn im Hintergrund  ist ein Tal mit Flüssen, Häusern und einem enormen steinernen Brückenbogen angedeutet. Letzterer führt zu  dem massiven Bau einer palastähnlichen Anlage, die hinter der Figur aufragt.

Das durchscheinende Blau von Himmel und Wasser, die üppige Vegetation, vor allem aber die Architektur des Palastes oder der Burg erinnern an eine südeuropäische Landschaft mit Merkmalen der römischen oder griechischen Antike. Sie verleiht der Komposition etwas Strahlend-Feierliches.

Die Atmosphäre dieser Landschaft umfasst die Figur Timur Novikovs.

Sein eindringlicher auf den Betrachter gerichteter Blick, das eigenartig geschminkte Gesicht und die übereinander gefalteten Arme eines Skelettes beanspruchen sofort alle Aufmerksamkeit.

Verfolgt man den Weg von der Fotografie zum Gemälde, so stellt man fest, dass es einen Zwischenschritt gibt: eine nicht datierte übermalte Fotografie >>. Auf diesem nur 9 x 12 cm großen Abzug hat der Künstler mit bunten Filzstiften die Gesichtspartie Novikovs übermalt bzw. koloriert, was der Erscheinung ein clowneskes Aussehen gibt. Im Gemälde hat Evgenij Kozlov entscheidende Elemente dieser Übermalung verwendet: die Augenpartie (in spiegelbildlicher Anordnung), die Nase, die Farbigkeit von Wange und Ohr. Der schmale Mund ist auf dieser Fotografie unter der Übermalung verschwunden. Ihn hat der Künstler von der ursprünglichen Fotografie übernommen.

In starkem Kontrast zu dem im Gemälde weiß überschminkten schattenlosen Gesicht stehen die gelbe, rotgepunktete Nase, die schmalen roten Lippen, und vor allem die eindrucksvollen maskierten Augen. Auf dem rechten Auge des Portraitierten, für uns also links, liegt ein schwarzer, mit transparentem rot gefüllter Ring wie ein übergroßes Monokel mit getöntem Glas. Rechts davon das schwarze, spärlich mit rot und blau versehene Oval einer Augenhöhle, aus dem das Weiß des Augapfels, das Schwarz der Iris, darauf ein weißer Lichtpunkt leuchten. Wie abwesend ist der Blick durch das rote Monokel; suggestiv, unverwandt, durchdringend blickt das andere Auge. Es bestimmt das Verhältnis zum Betrachter.

Unter den eingefallenen Wangen zeichnet sich die Schädelform ab.

Was immer auf der übermalten Fotografie komisch gewirkt haben mag: hier wird es ernst. Unter der Maske des Magiers schaut uns kein Partygast mit Spaß am Verkleiden an. Hier teilt uns der Künstler etwas von seinem Wissen von Leben und Tod mit. Mit diesem Wissen gestaltet er die Figur Timur Novikovs. Und diese Mitteilung beschränkt sich nicht auf den Blick.

Den Kontrapunkt zum Gesicht bilden die Knochenarme.

Еvgenij Kozlov in der „Galaxy Gallery" mit den Bildern „Papagei“, „Portrait von Oleg Kotelnikov mit Krokodil und rotem Punkt" und dem noch unvollendenten Portrait von Timur.  Fotografie: V. Sadovnikov, 1988

Еvgenij Kozlov in der „Galaxy Gallery"
mit den Bildern „Papagei“, „Portrait von Oleg Kotelnikov mit Krokodil und rotem Punkt" und dem noch unvollendenten Portrait von Timur.

Fotografie: V. Sadovnikov, 1988

Es lohnt sich, sich diese beiden Arme einmal wegzudenken. Man erkennt dann deutlich die Konzeption des schwarzen Rahmens mit den abgerundeten Ecken, der aus dem Torbogen gebildet wird, welcher die Figur von allen Seiten einfasst. Der Fokus des Gemäldes liegt jetzt eindeutig auf dem Gesicht. Dieses Stadium des Gemäldes, noch ohne die Verstrebungen des Pavillons, hat es in der Tat gegeben. Wir erhalten das "Portrait eines Magiers vor antikisierender Landschaft".

Evgenij Kozlov war mit dem Ergebnis dieses Stadiums nicht zufrieden. Das Gemälde war ganz offensichtlich unfertig, und zwar sowohl in Hinsicht auf die Komposition als auch den Sinngehalt. Er suchte lange nach einer Lösung. Wie und wodurch er auf die Idee mit den Knochenhänden kam, wissen wir nicht. Wir empfinden aber ihre absolute Stimmigkeit in Bild.

Die Skelettarme setzen auf der Höhe von Timur Novikovs Schultern an, direkt über den Schultergelenken, und liegen über seiner Brust gekreuzt. Sie befinden sich jedoch in einigem Abstand vor seinem Körper, genaugenommen auf der Bildoberfläche. Die Figur umfasst einen dieser Arme mit einer weiteren Hand und sie hält damit beide vor sich in der Schwebe. Ein Blick auf die Fotografie zeigt, dass diese Hand einschließlich des dazugehörigen Unterarms die ursprüngliche Haltung des Arms übernimmt. Bereits in der Grafik von 1986 ist die Hand farblich verfremdet und durch einen geometrisch-abstrakten Unterarmknochen ergänzt worden. Diese Bildpartie nimmt das Rot des Monokels wieder auf, welches sich sonst nur noch in den schmalen Lippen, der gepunkteten Nase und im Haaransatz findet. Das Rot bildet gegenüber der Dominanz des ätherischen Blau und des absorbierenden Schwarz den stärksten farblichen Kontrast im Gemälde. Diese rote Hand war bereits vorhanden, als der Künstler sich entschloss, die Komposition durch die Knochenarme zu vervollständigen.

Die Andeutung des Buches, das die Hand umfasst, blieb erhalten, aber die Hand stellt nun die Verbindung zum Betrachter her. Genauer: sie vermittelt zwischen der Bildwirklichkeit und der Wirklichkeit des Betrachters, in deren Grenze oder Übergang die Knochenarme liegen.

Timur Novikov hält sie mit der roten Hand wie ein Zeichen vor seinen weichen, lebendigen Körper. In ihrer Verschränkung wie bei aufgebahrten Toten, oder wie bei einer Warnung vor Gift, die eine Hand auf der Herzgegend, schaffen diese Arme vor der Figur einen Raum, in den der Betrachter nur geistig eindringen kann. Dieser Raum erhält sein Pendant im Rücken der Figur, indem der Rahmen des „Torbogens“, der zuvor direkt an den Schultern ansetzte, von der Figur abgerückt wird, nach hinten versetzt und durch ein filigranes Kreuzgitter zum Pavillon umgewandelt wird. Die Figur steht somit frei und doch auf merkwürdige Weise geschützt.

Die Komposition, die bislang nur aus Vorder- und Hintergrund bestand, hat eine Vertiefung der Räumlichkeit erfahren. Formen und Farben nehmen aufeinander Bezug, sie durchwirken den Raum. Das Blau des Himmels und der Flüsse wird im Blau der Knochenarme aufgenommen. Die Zickzacklinien der Knochen gehen in den weichen Bogen des Pavillons über. Das Rot springt über das Gesicht zur Hand. Die strahlende Helligkeit des Gesichts wird von den Knochenarmen reflektiert und findet sich im Palast wieder. Das Bild ist vollständig in sämtlichen Details.

Diese Räumlichkeit ist keine perspektivische Räumlichkeit, die sich mit Hilfe des Fluchtpunktes konstruieren lässt. Sie ist sehr viel komplexer. Der geistige Raum, in den der Betrachter eintritt, hat keine Raumkoordinaten, die diesem Betrachter einen festen Standpunkt im Hinblick auf ein Objekt ermöglichen würden. Er vermittelt ihm vielmehr ein Gefühl, als ob sich der Raum durch ihn hindurchbewegt, oder besser: hindurchschwimmt, von vorne nach hinten, diagonal, nach oben, nach unten, in beliebiger Richtung. Diese Bewegung belebt uns, weitet unsere Empfindung. Dabei bleibt die Schärfe der Wahrnehmung in Bezug auf die Abbildung erhalten. Eine solche Klarheit der Empfindung bei gleichzeitiger räumlicher Unbestimmtheit geht weit über den klassischen Ansatz der Portraitmalerei hinaus, die nach Ähnlichkeit strebt, im besten Fall aber sich mit der Psychologie des Abgebildeten, seinem Charakter beschäftigt.

Durch die innovativen gestalterischen Elemente, allem voraus im Gesicht und mit den Knochenarmen, durch die Vielschichtigkeit des Bildaufbaus und durch den virtuosen Einsatz der Farbkontraste erreicht Evgenij Kozlov eine Intensität des Ausdrucks, der wir uns schwer entziehen können. Mit diesem Portrait erfahren wir etwas vom Geheimnis des Lebens und des Todes, von ihrem Zusammenhang, von ihrem Zusammenklang, ohne dass wir uns dieses „etwas“ in plumper symbolischer Manier sagen lassen müssen.

Wenn die Faszination der Mona Lisa in ihrer Milde und Entrücktheit liegt, die den Betrachter zur Kontemplation über das „Verborgene“ anregt, so liegt die Faszination des „Portraits von Timur Novikov mit Knochenarmen“ in seiner Unmittelbarkeit, die den Betrachter mit einem fundamentalen Wissen konfrontiert. Das Portrait der Mona Lisa holt den Betrachter aus dem profanen Raum und führt ihn in den geistigen Raum. Das „Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen“ führt den geistigen Raum bis an die Grenze zum profanen Raum, und in der Dringlichkeit des Blickes liegt die Aufforderung, den geistigen Raum in den profanen Raum hineinzuholen. Dies ist kein kontemplativer Vorgang, sondern bedarf eines willentlichen Aktes des Betrachters. Wir können bereits sehen, was wir noch nicht verstehen, wir sollen aber verstehen, was wir sehen.

Mit diesem Gemälde zeigt uns Evgenij Kozlov, welche Entwicklung das Portrait im 20. Jahrhundert nehmen konnte, welche Möglichkeiten sich eröffnet haben. In einem Interview aus dem Jahre 2010 sind diese Möglichkeiten auf eine knappe Formel gebracht:

„Wenn man mein Portrait von Timur Novikov aus dem Jahre 1988 betrachtet, so sieht man nicht Timur, sondern den Zustand, in den Timur letztendlich gelangte.“

Hannelore Fobo, 2011.

russischer Text >>

Evgenij Kozlov: „Allerdings unterliegt man schon dem ersten Irrtum, wenn man meint, dass es mir um die Abbildung eines existierenden Menschen ging. ...
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